Es gibt Momente, in denen sich ein
ganzes Leben zeigt. Das können alltägliche, müssen gar keine
besonderen Momente sein, aber irgendetwas leuchtet plötzlich auf,
oder ein grundlegendes Lebensmuster erhält ein deutliches, klares
Bild. Das können Lebensmuster sein, die man sich besser abgewöhnen
sollte, und dieses Bild oder Gleichnis verstärkt es noch, macht es
fester, unveränderlicher als es ist. Oder auch umgekehrt. Oder ein
übernommenes und nie in Frage gestelltes Verhaltensmuster wird
plötzlich fragwürdig oder lächerlich und funktioniert nicht mehr
so wie bisher. In solchen Momenten kann sich eine Lebenstragödie
verfestigen oder auch auflösen – jedenfalls sind solche Momente
deren Kistallisationspunkte. Ich will drei solcher Momente aus
meiner Schulzeit erzählen.
Wer meine Geschichten hier gelesen hat,
wird wissen, daß ich in meiner Kindheit und Jugend – um es ganz
vorsichtig auszudrücken – in Gefahr war, mich als Opfer zu
definieren. In der dritten Klasse Gymnasium habe ich dafür ein
Gleichnis bekommen. Wir haben im Deutschunterricht den Schimmelreiter
von Theodor Storm gelesen. Alles habe ich vergessen, nur den Satz
„Was Lebigs muß rein!“ nicht. Dabei geht es um den Dammbau gegen
das Meer und die Vorstellung, daß an besonders heiklen Stellen ein
Damm nur dann halten kann, wenn etwas „Lebigs“, also Lebendiges,
geopfert wird.
Ich zitiere: „Als ich ein Kind war,
(…) hörte ich einmal die Knechte darüber reden. Sie meinten, wenn
ein Damm dort halten solle, müsse was Lebigs da hineingeworfen und
mit verdämmt werden; bei einem Deichbau auf der anderen Seite, vor
wohl hundert Jahren, sei ein Zigeunerkind verdämmt worden, das sie
um schweres Geld der Mutter abgehandelt hatten.“
Und an einer anderen Stelle geht es
darum, daß die Arbeiter beim Dammbau einen Hund in den Damm
reinwerfen wollten und ihr Aufseher, der Schimmelreiter, es
verhindert hat.
Wir haben im Unterricht auch kurz
darüber gesprochen, was, weiß ich nicht mehr, aber ganz genau weiß
ich, was ich in dem Moment dachte: „Wenn das heute noch so gemacht
werden würde, dann wäre ich reingeworfen worden. Ich würde nicht
mehr leben.“ Und das Gefühl der Erleichterung, daß es heute nicht
mehr so ist, wurde gleich und immer stärker verdrängt von einem
Gefühl der Scham – ja, wie kann ich das ausdrücken? - daß ich
sozusagen auf unehrenhafte Art überlebt habe. Daß die
zivilisiertere Gesellschaft eine dekatente Form sei und die
archaische die stärkere, echtere, der menschlichen Natur
entsprechendere sei und ich mit meiner schwachen Existenz gegen diese
Natur verstoße.
Dieses Gefühl sitzt tief in mir
verankert und immer, wenn ich mich nicht lebensberechtigt fühle,
fällt mir die Geschichte vom Schimmelreiter ein. Damit es kein
Mißverständnis gibt – ich bin froh, daß ich diese Geschichte
kennengelernt habe und es ist wichtig, das dieses mein Lebensgefühl
ein Bild gefunden hat, denn dadurch kann ich es von außen betrachten
und leichter einordnen. Jetzt kann ich mir sagen, was ich bei
Döbereiner gelernt habe, daß nämlich immer dann, wenn Leben
geopfert wird, nicht der Himmel, sondern das Böse, also das Falsche,
Verdrängte angebetet wird. So ungefähr drückt es Döbereiner aus.
Dadurch kann ich mir klar machen, daß dieses mein internalisiertes
Urteil über mich nicht gilt und eben nicht den dem Dasein
zugrundeliegenden Lebensgesetzen entspricht. Das sich klarzumachen
ist in der Situation der Verzweiflung durchaus harte Arbeit und die
Versuchung, dieses Bild einfach gelten zu lassen und nicht zu
bearbeiten, ist manchmal groß. Aber es gelingt.
Die zweite Geschichte spielt im
Zeichenunterricht. Wir hatten in der Unterstufe einen sehr strengen
Zeichenprofessor. Wenn man etwas von den Malutensilien vergessen
hatte, gab es als Strafe seitenlanges Schreiben von Sätzen wie „Ich
darf meinen Malbecher nicht zu Hause vergessen!“ und ähnliches. Er
war im Grunde ein humorvoller Mensch, ein scharfer, unbestechlicher
Beobachter und meisterhafter Porträtist und konnte meisterhaft
Menschen nachäffen – ihre Gestik, Stimme, Sprache, Ausdrucksweise,
und gerüchteweise hörten wir davon, wie er beim Lehrerfasching die
ganze Runde mit seinen Persiflagen seiner Kollegen unterhielt und zum
Lachen brachte.
In seiner Rolle als Lehrer – und ich
vermute, auch in seiner Rolle als Vater und zu sich selbst als
Künstler – war er streng. „Schlimme“ Schüler konnten sich
durchaus Ohrfeigen einfangen – diese verräterische Ausdruckweise,
als würde der Schüler freiwillig die Ohrfeigen suchen! - oder
„Knackwatschen“, garniert mit dem Satz „Ein Schlag in das
Genick erhöht das Denkvermögen!“.
Seine Unbestechlichkeit zeigte sich
auch darin, daß der Sohn des Schuldirektors von ihm genauso
Ohrfeigen abbekam und er mir – obwohl er mir wohlgesonnen war –
aufgrund meiner ausdrucksschwachen, verklemmten Zeichnungen immer
höchstens eine Drei ins Zeugnis gab. Trotzdem ich von ihm nie
geschlagen oder bloßgestellt oder verspottet wurde, fürchtete ich
ihn sehr.
Wenn man etwas vergessen hatte, mußte
man gleich zu Beginn der Unterrichtsstunde aufzeigen, und nachdem
einen der Professor aufgerufen hatte, etwas in der Art sagen: „Herr
Professor, ich bitte um Entschuldigung, ich habe meinen Malbecher
vergessen.“ Darauf er: „Als Strafe schreibst du hundertmal....“.
Es nicht zu melden zog eine strengere Strafe nach sich, denn
Durchschwindeln war erst recht verpönt.
Einmal ist mir auf dem Weg in die
Schule mein Plastikmalbecher zerbrochen, vermutlich beim Transport im
überfüllten Autobus, aber an diesem Tag fiel überraschenderweise
der Zeichenunterricht aus. Eine Woche später, als wir wieder
Zeichnen hatten, hatte ich zwar das Sackerl mit den Malsachen
mitgenommen, aber vergessen, einen neuen Malbecher einzustecken. Da
habe ich dann geschwindelt. Ich habe aufgezeigt und nach Aufruf
gesagt: „Entschuldigung, Herr Professor, mir ist im Autobus der
Malbecher zerbrochen.“ Die Entschuldigung wurde angenommen. Ah,
dachte ich, das war jetzt eine gute Idee!
Dasselbe dachte sich auch ein
Mitschüler und sagte dem Professor – im Ablauf desselben Rituals –
daß auch ihm der Malbecher zerbrochen sei. Jetzt wollte der
Professor die zerbrochenen Teile sehen. Und der Schüler wurde streng
bestraft, weil er nicht nur den Malbecher vergessen, sondern auch
noch gelogen hatte.
Ich selber bin mit hochrotem Kopf und
gesenktem Blick in der Bank gesessen und bin mir richtig schäbig
vorgekommen, weil auch ich keine Scherben vorweisen hätte können,
denn was ich als Entschuldigung angeführt hatte, war ja vor einer
Woche passiert; an diesem Tag habe ich den Malbecher ganz klassisch
einfach vergessen. Und ich schämte mich auch vor dem Mitschüler,
daß der Professor mir meine Lüge geglaubt hatte, ihm die seine aber nicht.
Irgendwann bekamen wir dann einen
jungen Zeichenprofessor, und wie ich wieder einmal den Malbecher
vergessen hatte, zeigte ich dem eingeübten Ritual gemäß auf und
sagte brav mein Sprücherl: „Bitte um Entschuldigung, Herr
Professor, ich habe meinen Malbecher vergessen.“ Worauf er
antwortet: „Na und? Was habe ich damit zu tun? Tauchst halt den
Pinsel beim Nachbarn ein!“ Durchaus mit dem Unterton, wie ich denn
dazukomme, ihn damit zu belästigen.
Aber da hat sich in mir etwas gedreht;
ich war überrascht und perplex, daß man diese Sache, die mich
jahrelang in Angst und Schrecken versetzt hatte, so leicht und
unproblematisch handhaben kann.
Wichtig aber auch: auch hier fühlte
ich mich schuldig, nicht weil ich den Malbecher vergessen, sondern
weil ich in meiner naiven Zurückgebliebenheit und schon längst
überholten Autoritätsgläubigkeit den Professor mit so etwas
belästige, oder anders ausgedrückt, weil ich mich nicht den neuen
Anforderungen der neuen Zeit entsprechend als ein freier,
aufgeweckter, selbstsicherer, kecker, souveräner,
eigenverantwortlicher, selbständiger „Bürger“ erwiesen habe,
der alles selber managen kann und nicht die Obrigkeit mit seinen
Psychosozialproblemen und seinen mangelnden Kompetenzen belästigt.
Sie wissen schon: wer nicht zurecht kommt, ist selber schuld.
Die dritte Geschichte hat auch mit
einem Zeichenprofessor zu tun. Der war auch von der alten Schule,
aber ein Gegenpol zu ersterem. Milde, gütig, charmant, nachsichtig,
ein bißerl zu Kitsch neigend. Er besserte gern unsere Zeichnungen
aus und konnte einem beim nächsten Vorlegen der Arbeiten dafür
loben. Ich glaube, er hatte wirklich vergessen, daß er es selber
gemacht hatte. Bei ihm hatte ich meistens einen Einser und ich mußte
mich überhaupt nicht vor dem Zeichenunterricht fürchten. Und
trotzdem mochte ich ihn nicht.
Einmal hatte ihm nämlich ein Mitschüler irgendeine
Tube zurückgegeben und sie nicht „korrekt“ gedrückt. Also statt
am hinteren Ende der Tube mit dem Rausdrücken des Klebstoffs oder
der Farbe zu beginnen, hatte er einfach irgendwo in der Mitte der
Tube reingedrückt, was an den zurückgebliebenen Dellen deutlich zu
sehen war. Der Professor stellte den Schüler deswegen zur Rede und
in seiner Belehrung über das korrekte Tubendrücken und der
Zurechtweisung fragte der Professor den Schüler. „Macht ihr das
bei euch zu Hause auch so?“ Der Schüler antwortete „Ja!“,
worauf der Professor eine verächtlich machende Tirade losließ, so in
dem Sinn, aus welchem Haus er denn komme, wo man nicht wisse, wie man
Tuben richtig drückt, was für eine Familie das sein soll,
offensichtlich kein Niveau und ungebildet.
Mir wäre das nicht passiert, daß ich
„Ja“ gesagt hätte; ich hätte die Falle gerochen und „Nein“
gesagt – obwohl auch wir daheim die Tuben unkorrekt gedrückt haben
– und damit die ganze „Schuld“, nicht nur meine eigene, sondern
auch die der Familie, auf mich genommen.
Ab diesen Zeitpunkt habe ich diesen
Professor verabscheut, dafür, daß er so hochmütig und arrogant auf
Kosten seines Schülers seinen Standesdünkel ausgelebt hatte. Mir
hatte der Professor nichts getan, aber ich hatte eine regelrechte
Aversion gegen ihn. Diese Geschichte hat natürlich auch viel mit
gesellschaftlichen Platzzuweisungen zu tun, wer oben und wer unten
landet, oder meinetwegen in der Mitte, denn solche Erfahrungen können sich ja in einem noch wachsenden Wesen als starre Bilder und Zuschreibungen verfestigen.
©Peter
Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com