(Šilo)
Gestern hat mich ein Mann angesprochen; er wollte wissen, wieviel es kostet,
diesen Wohnwagen zu mieten. Er, seine Familie und seine Gruppe waren in Zelten
da und nach der Sturmnacht wohl zermürbt. Ich vermute das, weil ich eine solche
Sturmnacht hier schon einmal im Zelt
erlebt habe.
Ich war – wie immer, wenn mich jemand anspricht – sehr
mißtrauisch und unsicher – strukturell eigentlich richtiger umgekehrt: zuerst
unsicher, dann mißtrauisch. Sofort war ich angespannt, alarmiert, aber höflich,
freundlich, fast devot. Obwohl er aus einer Gruppe von Cafésitzern und Biertrinkern war,
die man schon vormittags ständig nebenan im Café
sitzen und trinken sieht, und vor denen ich mich fürchte (nicht fürchtete, denn
ich fürchte mich immer noch) – wo ich mir aber im Moment nicht sicher war, ob
ich mich nicht irre und den armen Mann verwechsle – jedenfalls hatte er etwas
an sich, was ich auch als einen Anflug von Unsicherheit, ja Devotsein deutete.
Das nahm sich sofort für ihn ein, sodaß ich sofort meine Schutzschilder senkte
und mich öffnete; zu sehr, wie ich nachher dachte, als mich meine Frau darauf
aufmerksam machte, daß er doch aus der Gruppe von Trinkern sei und es besser
wäre, nicht zu engen Kontakt zuzulassen.
Es gab hier mindestens zwei solcher Männergruppen, die schon
am Vormittag nebenan im Freiluftcafé tranken; bei einer Gruppe hatte ich den
Verdacht, daß es Neonazis waren (oder zumindest einer von ihnen), von ihrer
Kleidung, ihrem Auftreten, Frisuren, Tätowierungen her.
Aber ich verwechsle die Gruppen immer, denn ich schaue nie
genau hin, weil ich keinen Augenkontakt herstellen möchte. Ich hatte Angst vor
denen, wie ich als Kind vor den älteren Kindern und Jugendlichen Angst hatte,
die mich als ihr Opfer behandelten. Stelle ich Augenkontakt her, sehen sie es
und ich bin wieder in der Opferrolle. Darum konnte ich mir die wenigsten
Gesichter merken.
Das Gespräch mit dem Mann verlief freundlich, höflich und
nett – für sich genommen war daran nichts falsch. Aber trotzdem lief bei mir
ständig Mißtrauen und Angst mit – das tut es immer in vergleichbaren
Situationen. Eine Stimme in mir versuchte vergeblich, mich vorm Überlaufen mit
fliegenden Fahnen zu warnen, will sagen, mich daran zu hindern, mit diesem Mann
zu vertraut zu werden, bloß weil er möglicherweise genauso schüchtern ist wie
ich. Am Ende des Gesprächs war ich jedoch glücklich, ihm mit meinen Auskünften
ein wenig geholfen und ihn mit meinen Schilderungen einer solchen Sturmnacht
hier, vor Jahren, wo ich die ganze Nacht gestanden bin und das Zelt gehalten habe, damit es
der Sturm nicht davonbläst, ein wenig erheitert zu haben. Das Lachen darüber
hat Vertrautheit und Verbindung hergestellt – immer mit der warnenden Stimme in
mir als parallelen Begleiter.
Nachher ist wieder die Panik ausgebrochen, die Angst, daß
die von dieser Partie uns jetzt zu nahe treten, den Kontakt verstärken wollen
und bei uns herumhängen oder uns/mich in ihre Gruppe ziehen wollen, verstärkt
durch die Bedenken und Kommentare meiner Frau, die ihren ersten Mann an solche
Trinkerrunden verloren hatte. Das war also ihr Film. Meiner ist das
Ausgeliefertsein meiner Kindheit, ausgeliefert einer Gruppe von einigen cirka
fünf, sechs Jahre älteren Kindern, im Lauf der Zeit dann Jugendlichen, die mit
mir machen konnten, was sie wollten.
Anzumerken ist noch, daß mich diese ständig mitlaufende
Angst daran hindert, die Menschen wirklich wahrzunehmen und mir ihre Gesichter
zu merken, was wiederum Unsicherheit und Angst erhöht, weil ich so keinen
rechten Eindruck vom Gegenüber bekomme.
Am nächsten Tag habe ich den Mann zunächst gar nicht mehr
erkannt – in meiner Erinnerung trug er lange Haare, zu einem Roßschwanz
gebunden, während er in Wirklichkeit kurze Haare hatte. Nicht geschoren wie bei
einigen der als Neonazi verdächtigten Gruppe, zu der er, wie ich jetzt
erleichtert feststellte, sicher nicht gehörte.
Das ist sowieso ein Thema: daß ich Menschen nicht anschauen
kann, den Augenkontakt vermeide und sie mir nicht merken kann. Ihre Gesichter
nicht, ihre Namen nicht, geschweige denn, daß ich mich an Kleidung und
ähnliches erinnern könnte. Das geht leichter, wenn ich bloß von außerhalb, ohne
beteiligt oder involviert zu sein, einen Menschen oder eine Szene beobachten kann.
Bin ich angesprochen oder involviert – direkt oder indirekt, weil irgendwas in
mir Resonanz findet – verliere ich völlig die Fassung. Überhaupt: es fällt mir
sehr schwer, Menschen anzusprechen, auch solche, die ich schon länger kenne wie
ArbeitskollegInnen. Ich bin immer unsicher, ob ich mir den richtigen Namen
gemerkt habe. Und auch wenn ich ihn weiß, kann er mir in einer Ich-Du-Situation
völlig entfallen sein.
Es ist schrecklich, das festzustellen, aber die
Ich-Du-Situation vermeide ich. Ich neige deswegen auch zur „Amtssprache“.
Floskeln, man, neutrale Rede wie „dann wird ausführlich geskypt“ statt „dann
werden wir mit dir ausführlich skypen, liebe Tochter, schließlich bist du das
erstemal in deinem jungen Leben tausende Kilometer von deinen Eltern und
Geschwistern entfernt, für einen längeren Zeitraum und ich freue mich schon,
wenn wir dich am Bildschirm sehen und hören können, was du uns zu erzählen
hast.“ (Obwohl: „was du uns zu erzählen hast“ geht auch schon wieder Richtung
unpersönliche Sprache; es hätte genügt „was du uns erzählst“. Schließlich gibt
es niemanden und nichts, was sie zwingen oder sie auffordern oder ihr
vorschreiben kann, etwas zu erzählen. Das kommt doch ganz aus ihr heraus.)
Ja, ich habe kein rechtes Ich, deshalb vertrage ich kein Du.
Ich habe einem Du nichts gleichwertiges entgegenzusetzen. Ich meine nicht in
Abwehr – obwohl das gegebenenfalls auch stimmt, siehe oben – sondern als
Gegenüber, als das Du für das andere Ich.
(Das habe ich bei der Lektüre von „Kämpfen“ von Karl Ove
Knausgård geschrieben, der in diesem
autobiographischen Roman einen Essay über Hitlers „Mein Kampf“ eingefügt hat,
in dem er zeigt, das es in diesem furchtbaren Buch kein Du gibt.)
Meine Sturmnacht im Zelt verlief übrigens so:
Schon seit Jahren fahren wir im Urlaub an diesen
Campingplatz und mieten uns dort einen Wohnwagen. Jedes Jahr gab es einen
Sturm, aber wenn der auch noch so am alten, ausrangierten Wohnwagen rüttelte
und bei entsprechender Windrichtung der Gewitterregen durch die Ritzen der schon
etwas undichten Fenster tropfte, allzu viel hat er nie angerichtet.
Aber einmal, da hat es mit der Reservierung nicht geklappt.
Wir meinten, der Wohnwagen wäre reserviert, aber – aus welchen Gründen auch
immer – dem war nicht so. Als wir es merkten, waren schon alle Wohnwagen
vergeben. Was tun?
Unsere Kinder hatten mit anderen Kindern vereinbart und es
auch durchgesetzt, daß diesmal beide Familien auf diesem Campingplatz gemeinsam
Urlaub machen und die andere Familie hatte ein Apartment gemietet, das auch zu
diesem Camp gehörte. Ich hatte da ein wenig Bedenken, denn diese Familie
bevorzugte ansonsten bessere Destinationen (während wir auf die billigere
Möglichkeiten angewiesen waren) – sodaß sie mit diesem Camp möglicherweise
nicht zufrieden sein könnten. Aber der gemeinsame Urlaub beider Familien war
ausgemacht. Es gab noch Zeltplätze.
Zelteln wollte ich allerdings nicht. Ich hatte schon seit
Jahren mit Kreuzschmerzen zu kämpfen und fürchtete mich vor den möglichen
schmerzhaften Folgen des Am-Boden-Liegens für mein Kreuz. Frau und Kinder
wollten aber unbedingt fahren, ich jedoch verweigerte mich. Zunächst.
Bei einem Telephonat mit meiner Schwester erzählte ich ihr,
daß ich diesmal nicht mit in den Urlaub fahre. Sie sagte mit darauf auf den
Kopf zu, daß ich meine Familie nicht so im Stich lassen könne und das einfach
nicht machen könne. Ich war mir ganz sicher, daß ich da nicht mitfahren muß,
denn meine Gesundheit ist doch auch ein Wert, nicht nur die Einhaltung der
Vereinbarung mit der anderen Familie. Aber ich ließ mich verunsichern und gab
schließlich nach. Um es gleich vorwegzunehmen: das Leben im Zelt war gegen
meine Befürchtungen für mein Kreuz kein Problem, die Isoliermatte, auf der ich
schlief, war sehr gut und ich hatte nicht mehr Kreuzschmerzen als sonst auch.
Das Zelt, das meine Frau, die begnadete Networkerin, von
jemand Bekanntem ausgeborgt hatte, hatte die andere Familie in ihrem Auto
mitgenommen, denn da wir kein Auto haben, sind wir – wie immer – mit Rucksäcken
und Taschen bepackt mit dem Zug nach Rijeka und von dort – ich weiß nicht
mehr, ob wir traditionellerweise mit Bus und Taxiboot, oder doch schon mit dem
Taxi auf die Insel gefahren sind. Jedenfalls wurde es schon dunkel, als wir
ankamen. Wir suchten noch den Zeltplatz aus, was ebenfalls Zeit beanspruchte.
Als wir das Zelt aufstellten, war es schon finster. Wir hatten das Aufstellen
zu Hause geübt und soweit bekamen wir das auch ganz gut hin. Ich war
erleichtert, denn wir sind keine Camper und ich bin in solchen Dingen komplett
unerfahren.
Alles verlief normal, das Kreuz machte nicht mehr Probleme
als sonst, wir lebten in dem Zelt, die Kinder freuten sich, mit ihren Cousins
und Cousinen zusammen zu sein und alles schien okay.
Doch dann kam der Sturm. Es begann an einem Abend. Später in
der Nacht drohte der Sturm das Zelt umzulegen. Andere, mit dem Camping
erfahrenere und den örtlichen Gegebenheiten besser vertraute Camper hatten
vorgesorgt: sie hatten, als der Wind stärker wurde, breite Gurten über ihre
Zelte gespannt und – was mir erst jetzt auffiel – sie verwendeten nicht diese
normalen, mickrigen Heringe zum Befestigen der Zeltschnüre, sondern längere und
stärkere, wenn sie nicht überhaupt Hunderternägel benutzt hatten, für die
manche mit Bohrmaschinen die Löcher in den harten, steinigen Boden gebohrt
hatten. (Die Bodenbeschaffenheit war nämlich so: entweder bekam man den Hering
nicht recht in den Boden, weil der so hart war, oder, wenn man ihn endlich
reingeschlagen hatte, zerbröselte das steinige Loch sehr leicht, sodaß an
dieser Stelle kein Hering mehr hielt.) Dort, wo der Sturm trotz aller
Sicherheitsmaßnahmen die Zelte wegzublasen drohte, legten sie die Leute
zusammen und setzten sich ins Auto. Dieser Fluchtweg stand uns nicht offen.
Unsere jüngste Tochter hatte sich schon bevor von einem
Sturm die Rede war, mit ihrer Cousine verabredet, diese Nacht bei ihnen im
Apartment zu schlafen – ein Hoch auf einen gesunden Instinkt! - unsere ältere
Tochter schlief tief und fest und bekam vom Sturm nichts mit, während ich
verzweifelt versuchte zu verhindern, daß der Sturm das Zelt wegreißt. Ich
schleppte Steine heran, um die Heringe, beziehungsweise die Zeltschnüre zu
beschweren – der Sturm zog diese auf den Schnüren liegenden Steinhaufen mir
nichts dir nichts einen halben Meter weiter, riß trotz aller Verstärkungen
einige Heringe heraus, zerriß Schnüre, das Zelt wurde immer schiefer und war
schon am Einstürzen, es goß in Strömen, ich stand draußen und versuchte, das
Zelt einfach festzuhalten, und, wenn die Böen etwas nachließen, noch mehr Steine
anzuschleppen und die herausgerissenen Heringe wieder einzuschlagen. Andere
Camper halfen mir dabei. Die durchhängenden Zeltplanen sammelten das Wasser an
und wurden undicht und es begann ins Zelt zu tropfen, gottseidank zunächst nur
ins Vorzelt; ich räumte die dort abgestellten Gepäckstücke ins Innenzelt, damit
unser Gewand nicht naß wird und ging wieder nach draußen in den Gewitterregen,
um wieder herausgerissene Heringe einzuschlagen zu versuchen, die zerlegten
Steinhaufen wieder auf die Heringe und Zeltschnüre zu schlichten und jetzt auch
auf die Zeltplanen, wo sie am Boden auflagen, damit der Sturm das Zelt nicht
davonbläst. Oder ich stand einfach da und hielt das Zelt fest.
Und meine liebe Frau? Die lag im Zelt und las einen Roman.
Meine verzweifelten Aufrufe, doch herauszukommen und mir zu helfen ignorierte
sie zunächst, denn sie wollte jetzt lesen. Als sie dann endlich herauskam, trug
sie ein paar Steine her – die meisten hatten schon ich und die Nachbarn
herbeigeschleppt – genaugenommen gab es in der ganzen Umgebung keine größeren
Steine mehr, denn wir waren nicht die einzigen, die ihre Zelte zusätzlich
beschweren mußten. Also „fand“ sie keine Arbeit mehr und legte sich wieder ins
windgepeitschte Zelt zu ihrem Roman (Betonung auf a).
Ich ging herum, schlichtete die immer wieder umgestürzten
Steinhaufen neu, wenn die Böen orkanartig waren, hielt ich einfach das
Zelt fest, versuchte, noch irgendeine Stelle im steinigen Boden zu finden, wo
ich die Heringe zum fünfundzwanzigstenmal einschlagen konnte, verzurrte ein
paar Zeltschnüre an einem alten, hinigen Hydranten und wieder das Ganze von
vorne und so weiter und so fort.
Das ging stundenlang. An schlafen war nicht zu denken. Erst
gegen Morgen ließ der Sturm nach, da kroch ich auch ins schief und schlapp
herumstehende Zelt, der Wind schlug die gelockerten Zeltplanen herum, und ich versuchte, irgendwie zu schlafen. Die ältere Tochter schlief die ganze Zeit
über tief und fest – ein Hoch auf einen gesunden Schlaf! - auch meine Frau
schlief und ich selber döste bei der Morgendämmerung ein wenig ein.
[Halt!
Stop! Hier reklamiert meine Frau eine Szene, eine Variation herein, an die ich
mich nicht erinnern kann: Ich wäre des Morgens erschöpft ins Zelt gekrochen
gekommen um zu schlafen, wäre aber bei jedem Windstoß wieder aufgesprungen, um
draußen nach dem Rechten zu sehen, oder auch nur jedesmal hochgeschreckt. Die
Orkanphase des Sturms war vorbei, aber man kann ja nie wissen … Schließlich
hätte sie mir, gegen meinen Protest – aber für einen nachhaltigeren und
handfesteren Protest wäre ich aus Erschöpfung schon zu schwach gewesen (diese
Ausrede ist jetzt meine Formulierung) – also sie hätte liebevoll den Schlafsack
der bei ihrer Cousine nächtigenden Tochter liebevoll auf meinen Kopf gelegt,
damit ich den Sturm nicht mehr hörte. Und da sei ich dann doch tief und fest
eingeschlafen. Sagt sie. Ich kann mich daran nicht erinnern; aber wird schon
stimmen! Man versucht ja, der Wahrheit und der Wirklichkeit gerecht zu werden.
(„Ironie ist ein Idealismus, der sich nicht traut“ Romano Guardini) 25.8.2017]
Völlig unausgeschlafen erwachte ich bald wieder und
versuchte jetzt bei Tageslicht, das eine oder andere zu reparieren, die
Zeltschnüre wieder fester anzuspannen, jedoch mit minimalem Erfolg. Aber der
Sturm war vorüber, es blies nur mehr ein leichter Wind. Meine Frau begann das
Frühstück vorzubereiten, wir saßen im Chaos an Boden,
„Katastrophentouristen“ kamen herbei und
bestaunten unser windschiefes Zelt, manche schüttelten die Köpfe und murmelten
etwas in ihren Sprachen, was ich gottseidank nicht verstand – ich weiß nicht,
ob darüber, wie der Sturm gewütet hat, oder über meine Unfähigkeit, die Situation camperisch
ordentlich zu managen – so etwas bleibt immer am Mann hängen.
Später dann haben andere Camper angefangen, mich zu belehren
– abgesehen davon, daß das nicht meine Art ist, konnte ich schwer sagen, sie
sollen sich zum Teufel scheren, weil sie mir in der Nacht beim Steineschleppen und Zeltsichern geholfen
hatten.
Ja, so saß ich da: übermüdet, erschöpft, fertig, beschämt,
weil ich als nicht richtiger Camper es gewagt hatte, mitten unter den Profis
ein Zelt aufzustellen, weil ich mich also mitten unter den Campingspezialisten
als Campingtrottel herausgestellt hatte, wütend auch auf meine Frau, aber zu
gedemütigt und erschöpft, um ihr wirklich lautstark meine Meinung zu sagen –
während sie ausgeschlafen, fröhlich und vergnügt – ganz erfüllt von ihrem Roman
(Betonung a) (wenn ich nur wüßte, was das für ein Roman war!) [Ich habe nachgefragt: angeblich ein Krimi von Tana French. 25.8.] - das Frühstück
mitten im Chaos auf dem filigranen Campingkocher bereitete, lächelnd und voll
in ihrem Element.
(8./21./22./23.8.2017)
©Peter
Alois Rumpf August 2017
peteraloisrumpf@gmail.com