Mittwoch, 23. August 2017

746 Die Sturmnacht

(Šilo) Gestern hat mich ein Mann angesprochen; er wollte wissen, wieviel es kostet, diesen Wohnwagen zu mieten. Er, seine Familie und seine Gruppe waren in Zelten da und nach der Sturmnacht wohl zermürbt. Ich vermute das, weil ich eine solche Sturmnacht hier schon einmal  im Zelt erlebt habe.
Ich war – wie immer, wenn mich jemand anspricht – sehr mißtrauisch und unsicher – strukturell eigentlich richtiger umgekehrt: zuerst unsicher, dann mißtrauisch. Sofort war ich angespannt, alarmiert, aber höflich, freundlich, fast devot. Obwohl er aus einer Gruppe von Cafésitzern und Biertrinkern war, die man schon vormittags ständig nebenan im Café sitzen und trinken sieht, und vor denen ich mich fürchte (nicht fürchtete, denn ich fürchte mich immer noch) – wo ich mir aber im Moment nicht sicher war, ob ich mich nicht irre und den armen Mann verwechsle – jedenfalls hatte er etwas an sich, was ich auch als einen Anflug von Unsicherheit, ja Devotsein deutete. Das nahm sich sofort für ihn ein, sodaß ich sofort meine Schutzschilder senkte und mich öffnete; zu sehr, wie ich nachher dachte, als mich meine Frau darauf aufmerksam machte, daß er doch aus der Gruppe von Trinkern sei und es besser wäre, nicht zu engen Kontakt zuzulassen.
Es gab hier mindestens zwei solcher Männergruppen, die schon am Vormittag nebenan im Freiluftcafé tranken; bei einer Gruppe hatte ich den Verdacht, daß es Neonazis waren (oder zumindest einer von ihnen), von ihrer Kleidung, ihrem Auftreten, Frisuren, Tätowierungen her.
Aber ich verwechsle die Gruppen immer, denn ich schaue nie genau hin, weil ich keinen Augenkontakt herstellen möchte. Ich hatte Angst vor denen, wie ich als Kind vor den älteren Kindern und Jugendlichen Angst hatte, die mich als ihr Opfer behandelten. Stelle ich Augenkontakt her, sehen sie es und ich bin wieder in der Opferrolle. Darum konnte ich mir die wenigsten Gesichter merken.

Das Gespräch mit dem Mann verlief freundlich, höflich und nett – für sich genommen war daran nichts falsch. Aber trotzdem lief bei mir ständig Mißtrauen und Angst mit – das tut es immer in vergleichbaren Situationen. Eine Stimme in mir versuchte vergeblich,  mich vorm Überlaufen mit fliegenden Fahnen zu warnen, will sagen, mich daran zu hindern, mit diesem Mann zu vertraut zu werden, bloß weil er möglicherweise genauso schüchtern ist wie ich. Am Ende des Gesprächs war ich jedoch glücklich, ihm mit meinen Auskünften ein wenig geholfen und ihn mit meinen Schilderungen einer solchen Sturmnacht hier, vor Jahren, wo ich die ganze Nacht gestanden bin und das Zelt gehalten habe, damit es der Sturm nicht davonbläst, ein wenig erheitert zu haben. Das Lachen darüber hat Vertrautheit und Verbindung hergestellt – immer mit der warnenden Stimme in mir als parallelen Begleiter.

Nachher ist wieder die Panik ausgebrochen, die Angst, daß die von dieser Partie uns jetzt zu nahe treten, den Kontakt verstärken wollen und bei uns herumhängen oder uns/mich in ihre Gruppe ziehen wollen, verstärkt durch die Bedenken und Kommentare meiner Frau, die ihren ersten Mann an solche Trinkerrunden verloren hatte. Das war also ihr Film. Meiner ist das Ausgeliefertsein meiner Kindheit, ausgeliefert einer Gruppe von einigen cirka fünf, sechs Jahre älteren Kindern, im Lauf der Zeit dann Jugendlichen, die mit mir machen konnten, was sie wollten.

Anzumerken ist noch, daß mich diese ständig mitlaufende Angst daran hindert, die Menschen wirklich wahrzunehmen und mir ihre Gesichter zu merken, was wiederum Unsicherheit und Angst erhöht, weil ich so keinen rechten Eindruck vom Gegenüber bekomme.

Am nächsten Tag habe ich den Mann zunächst gar nicht mehr erkannt – in meiner Erinnerung trug er lange Haare, zu einem Roßschwanz gebunden, während er in Wirklichkeit kurze Haare hatte. Nicht geschoren wie bei einigen der als Neonazi verdächtigten Gruppe, zu der er, wie ich jetzt erleichtert feststellte, sicher nicht gehörte.

Das ist sowieso ein Thema: daß ich Menschen nicht anschauen kann, den Augenkontakt vermeide und sie mir nicht merken kann. Ihre Gesichter nicht, ihre Namen nicht, geschweige denn, daß ich mich an Kleidung und ähnliches erinnern könnte. Das geht leichter, wenn ich bloß von außerhalb, ohne beteiligt oder involviert zu sein, einen Menschen oder eine Szene beobachten kann. Bin ich angesprochen oder involviert – direkt oder indirekt, weil irgendwas in mir Resonanz findet – verliere ich völlig die Fassung. Überhaupt: es fällt mir sehr schwer, Menschen anzusprechen, auch solche, die ich schon länger kenne wie ArbeitskollegInnen. Ich bin immer unsicher, ob ich mir den richtigen Namen gemerkt habe. Und auch wenn ich ihn weiß, kann er mir in einer Ich-Du-Situation völlig entfallen sein.

Es ist schrecklich, das festzustellen, aber die Ich-Du-Situation vermeide ich. Ich neige deswegen auch zur „Amtssprache“. Floskeln, man, neutrale Rede wie „dann wird ausführlich geskypt“ statt „dann werden wir mit dir ausführlich skypen, liebe Tochter, schließlich bist du das erstemal in deinem jungen Leben tausende Kilometer von deinen Eltern und Geschwistern entfernt, für einen längeren Zeitraum und ich freue mich schon, wenn wir dich am Bildschirm sehen und hören können, was du uns zu erzählen hast.“ (Obwohl: „was du uns zu erzählen hast“ geht auch schon wieder Richtung unpersönliche Sprache; es hätte genügt „was du uns erzählst“. Schließlich gibt es niemanden und nichts, was sie zwingen oder sie auffordern oder ihr vorschreiben kann, etwas zu erzählen. Das kommt doch ganz aus ihr heraus.)

Ja, ich habe kein rechtes Ich, deshalb vertrage ich kein Du. Ich habe einem Du nichts gleichwertiges entgegenzusetzen. Ich meine nicht in Abwehr – obwohl das gegebenenfalls auch stimmt, siehe oben – sondern als Gegenüber, als das Du für das andere Ich.

(Das habe ich bei der Lektüre von „Kämpfen“ von Karl Ove Knausgård geschrieben, der in diesem autobiographischen Roman einen Essay über Hitlers „Mein Kampf“ eingefügt hat, in dem er zeigt, das es in diesem furchtbaren Buch kein Du gibt.)

Meine Sturmnacht im Zelt verlief übrigens so:

Schon seit Jahren fahren wir im Urlaub an diesen Campingplatz und mieten uns dort einen Wohnwagen. Jedes Jahr gab es einen Sturm, aber wenn der auch noch so am alten, ausrangierten Wohnwagen rüttelte und bei entsprechender Windrichtung der Gewitterregen durch die Ritzen der schon etwas undichten Fenster tropfte, allzu viel hat er nie angerichtet.

Aber einmal, da hat es mit der Reservierung nicht geklappt. Wir meinten, der Wohnwagen wäre reserviert, aber – aus welchen Gründen auch immer – dem war nicht so. Als wir es merkten, waren schon alle Wohnwagen vergeben. Was tun?
Unsere Kinder hatten mit anderen Kindern vereinbart und es auch durchgesetzt, daß diesmal beide Familien auf diesem Campingplatz gemeinsam Urlaub machen und die andere Familie hatte ein Apartment gemietet, das auch zu diesem Camp gehörte. Ich hatte da ein wenig Bedenken, denn diese Familie bevorzugte ansonsten bessere Destinationen (während wir auf die billigere Möglichkeiten angewiesen waren) – sodaß sie mit diesem Camp möglicherweise nicht zufrieden sein könnten. Aber der gemeinsame Urlaub beider Familien war ausgemacht. Es gab noch Zeltplätze.
Zelteln wollte ich allerdings nicht. Ich hatte schon seit Jahren mit Kreuzschmerzen zu kämpfen und fürchtete mich vor den möglichen schmerzhaften Folgen des Am-Boden-Liegens für mein Kreuz. Frau und Kinder wollten aber unbedingt fahren, ich jedoch verweigerte mich. Zunächst.
Bei einem Telephonat mit meiner Schwester erzählte ich ihr, daß ich diesmal nicht mit in den Urlaub fahre. Sie sagte mit darauf auf den Kopf zu, daß ich meine Familie nicht so im Stich lassen könne und das einfach nicht machen könne. Ich war mir ganz sicher, daß ich da nicht mitfahren muß, denn meine Gesundheit ist doch auch ein Wert, nicht nur die Einhaltung der Vereinbarung mit der anderen Familie. Aber ich ließ mich verunsichern und gab schließlich nach. Um es gleich vorwegzunehmen: das Leben im Zelt war gegen meine Befürchtungen für mein Kreuz kein Problem, die Isoliermatte, auf der ich schlief, war sehr gut und ich hatte nicht mehr Kreuzschmerzen als sonst auch.

Das Zelt, das meine Frau, die begnadete Networkerin, von jemand Bekanntem ausgeborgt hatte, hatte die andere Familie in ihrem Auto mitgenommen, denn da wir kein Auto haben, sind wir – wie immer – mit Rucksäcken und Taschen bepackt mit dem Zug nach Rijeka und von dort – ich weiß nicht mehr, ob wir traditionellerweise mit Bus und Taxiboot, oder doch schon mit dem Taxi auf die Insel gefahren sind. Jedenfalls wurde es schon dunkel, als wir ankamen. Wir suchten noch den Zeltplatz aus, was ebenfalls Zeit beanspruchte. Als wir das Zelt aufstellten, war es schon finster. Wir hatten das Aufstellen zu Hause geübt und soweit bekamen wir das auch ganz gut hin. Ich war erleichtert, denn wir sind keine Camper und ich bin in solchen Dingen komplett unerfahren.

Alles verlief normal, das Kreuz machte nicht mehr Probleme als sonst, wir lebten in dem Zelt, die Kinder freuten sich, mit ihren Cousins und Cousinen zusammen zu sein und alles schien okay.

Doch dann kam der Sturm. Es begann an einem Abend. Später in der Nacht drohte der Sturm das Zelt umzulegen. Andere, mit dem Camping erfahrenere und den örtlichen Gegebenheiten besser vertraute Camper hatten vorgesorgt: sie hatten, als der Wind stärker wurde, breite Gurten über ihre Zelte gespannt und – was mir erst jetzt auffiel – sie verwendeten nicht diese normalen, mickrigen Heringe zum Befestigen der Zeltschnüre, sondern längere und stärkere, wenn sie nicht überhaupt Hunderternägel benutzt hatten, für die manche mit Bohrmaschinen die Löcher in den harten, steinigen Boden gebohrt hatten. (Die Bodenbeschaffenheit war nämlich so: entweder bekam man den Hering nicht recht in den Boden, weil der so hart war, oder, wenn man ihn endlich reingeschlagen hatte, zerbröselte das steinige Loch sehr leicht, sodaß an dieser Stelle kein Hering mehr hielt.) Dort, wo der Sturm trotz aller Sicherheitsmaßnahmen die Zelte wegzublasen drohte, legten sie die Leute zusammen und setzten sich ins Auto. Dieser Fluchtweg stand uns nicht offen.

Unsere jüngste Tochter hatte sich schon bevor von einem Sturm die Rede war, mit ihrer Cousine verabredet, diese Nacht bei ihnen im Apartment zu schlafen – ein Hoch auf einen gesunden Instinkt! - unsere ältere Tochter schlief tief und fest und bekam vom Sturm nichts mit, während ich verzweifelt versuchte zu verhindern, daß der Sturm das Zelt wegreißt. Ich schleppte Steine heran, um die Heringe, beziehungsweise die Zeltschnüre zu beschweren – der Sturm zog diese auf den Schnüren liegenden Steinhaufen mir nichts dir nichts einen halben Meter weiter, riß trotz aller Verstärkungen einige Heringe heraus, zerriß Schnüre, das Zelt wurde immer schiefer und war schon am Einstürzen, es goß in Strömen, ich stand draußen und versuchte, das Zelt einfach festzuhalten, und, wenn die Böen etwas nachließen, noch mehr Steine anzuschleppen und die herausgerissenen Heringe wieder einzuschlagen. Andere Camper halfen mir dabei. Die durchhängenden Zeltplanen sammelten das Wasser an und wurden undicht und es begann ins Zelt zu tropfen, gottseidank zunächst nur ins Vorzelt; ich räumte die dort abgestellten Gepäckstücke ins Innenzelt, damit unser Gewand nicht naß wird und ging wieder nach draußen in den Gewitterregen, um wieder herausgerissene Heringe einzuschlagen zu versuchen, die zerlegten Steinhaufen wieder auf die Heringe und Zeltschnüre zu schlichten und jetzt auch auf die Zeltplanen, wo sie am Boden auflagen, damit der Sturm das Zelt nicht davonbläst. Oder ich stand einfach da und hielt das Zelt fest.

Und meine liebe Frau? Die lag im Zelt und las einen Roman. Meine verzweifelten Aufrufe, doch herauszukommen und mir zu helfen ignorierte sie zunächst, denn sie wollte jetzt lesen. Als sie dann endlich herauskam, trug sie ein paar Steine her – die meisten hatten schon ich und die Nachbarn herbeigeschleppt – genaugenommen gab es in der ganzen Umgebung keine größeren Steine mehr, denn wir waren nicht die einzigen, die ihre Zelte zusätzlich beschweren mußten. Also „fand“ sie keine Arbeit mehr und legte sich wieder ins windgepeitschte Zelt zu ihrem Roman (Betonung auf a).
Ich ging herum, schlichtete die immer wieder umgestürzten Steinhaufen neu, wenn die Böen orkanartig waren, hielt ich einfach das Zelt fest, versuchte, noch irgendeine Stelle im steinigen Boden zu finden, wo ich die Heringe zum fünfundzwanzigstenmal einschlagen konnte, verzurrte ein paar Zeltschnüre an einem alten, hinigen Hydranten und wieder das Ganze von vorne und so weiter und so fort.

Das ging stundenlang. An schlafen war nicht zu denken. Erst gegen Morgen ließ der Sturm nach, da kroch ich auch ins schief und schlapp herumstehende Zelt, der Wind schlug die gelockerten Zeltplanen herum, und ich versuchte, irgendwie zu schlafen. Die ältere Tochter schlief die ganze Zeit über tief und fest – ein Hoch auf einen gesunden Schlaf! - auch meine Frau schlief und ich selber döste bei der Morgendämmerung ein wenig ein.

[Halt! Stop! Hier reklamiert meine Frau eine Szene, eine Variation herein, an die ich mich nicht erinnern kann: Ich wäre des Morgens erschöpft ins Zelt gekrochen gekommen um zu schlafen, wäre aber bei jedem Windstoß wieder aufgesprungen, um draußen nach dem Rechten zu sehen, oder auch nur jedesmal hochgeschreckt. Die Orkanphase des Sturms war vorbei, aber man kann ja nie wissen … Schließlich hätte sie mir, gegen meinen Protest – aber für einen nachhaltigeren und handfesteren Protest wäre ich aus Erschöpfung schon zu schwach gewesen (diese Ausrede ist jetzt meine Formulierung) – also sie hätte liebevoll den Schlafsack der bei ihrer Cousine nächtigenden Tochter liebevoll auf meinen Kopf gelegt, damit ich den Sturm nicht mehr hörte. Und da sei ich dann doch tief und fest eingeschlafen. Sagt sie. Ich kann mich daran nicht erinnern; aber wird schon stimmen! Man versucht ja, der Wahrheit und der Wirklichkeit gerecht zu werden. („Ironie ist ein Idealismus, der sich nicht traut“ Romano Guardini) 25.8.2017]

Völlig unausgeschlafen erwachte ich bald wieder und versuchte jetzt bei Tageslicht, das eine oder andere zu reparieren, die Zeltschnüre wieder fester anzuspannen, jedoch mit minimalem Erfolg. Aber der Sturm war vorüber, es blies nur mehr ein leichter Wind. Meine Frau begann das Frühstück vorzubereiten, wir saßen im Chaos an Boden, „Katastrophentouristen“  kamen herbei und bestaunten unser windschiefes Zelt, manche schüttelten die Köpfe und murmelten etwas in ihren Sprachen, was ich gottseidank nicht verstand – ich weiß nicht, ob darüber, wie der Sturm gewütet hat, oder über meine Unfähigkeit, die Situation camperisch ordentlich zu managen – so etwas bleibt immer am Mann hängen.

Später dann haben andere Camper angefangen, mich zu belehren – abgesehen davon, daß das nicht meine Art ist, konnte ich schwer sagen, sie sollen sich zum Teufel scheren, weil sie mir in der Nacht  beim Steineschleppen und Zeltsichern geholfen hatten.

Ja, so saß ich da: übermüdet, erschöpft, fertig, beschämt, weil ich als nicht richtiger Camper es gewagt hatte, mitten unter den Profis ein Zelt aufzustellen, weil ich mich also mitten unter den Campingspezialisten als Campingtrottel herausgestellt hatte, wütend auch auf meine Frau, aber zu gedemütigt und erschöpft, um ihr wirklich lautstark meine Meinung zu sagen – während sie ausgeschlafen, fröhlich und vergnügt – ganz erfüllt von ihrem Roman (Betonung a) (wenn ich nur wüßte, was das für ein Roman war!) [Ich habe nachgefragt: angeblich ein Krimi von Tana French. 25.8.- das Frühstück mitten im Chaos auf dem filigranen Campingkocher bereitete, lächelnd und voll in ihrem Element.








(8./21./22./23.8.2017)










©Peter Alois Rumpf    August 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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