Komuskra Dengli steht auf der Liste.
Aber er will nicht mehr aufrecht sein. Nur liegen. Weder Antwort noch
Rede stehen. Nicht verantwortlich sein. Weder aufrecht noch
aufrichtig. Nur liegen und lügen. In die Materie versinken und
auflösen, bis nur noch ein Blick überbleibt, der herumwandern kann.
Ein Blick ohne Materie, ein körperloser Blick.
Er liegt am Rücken und schaut den
Luftblasen zu, die über ihm an die Oberfläche der Flüssigkeit
steigen und dort meistens kleine, zuckende Konglomerate bilden, die
fast immer nach links wegschwimmen, an den Rand der Flasche, wo sie
meistens zerplatzen, aber nicht auf einmal, sondern in kleinen
Gruppen. Die Luftblasen suchen sich eindeutig, sie gehen einander zu,
nur einmal stieben sie auseinander. Selten schwimmen sie nach rechts
an den Rand, und das Konglomerat der Luftblasen wandert am Rand
entlang wieder nach links, zerplatzt aber, bevor es dort angelangt
ist. Meistens. Komuskra Dengli betrachtet lange diese Manöver der
Luftblasen. Er findet sie spannend und interessant. Ein
bedeutungsvolles Spiel vom Aufbauen und Auflösen, ein Drama im
Kleinen.
Er will nicht mehr aufrecht sein. Im
Sitzen krümmt er sich zusammen. Der in sich verkrümmte Mensch.
Liegen und schauen. Und lauschen.
Jetzt scheinen die Lebenskräfte wieder
langsam zurückzukommen.
Heute hängt Komuskra Dengli wieder an
der Nadel. Er liegt wieder flach. Am Rücken.
Er schaut den Luftblasen zu, wie sie
rausspringen und in einer tanzenden Bewegung nach oben schwimmen.
Dort bilden sie oft zuckende Konglomerate, manchmal nur ganz kurz.
Im Glas spiegelt sich ein
gasflammenblaues Licht, das öfters von den Luftblasenkonglomeraten
überdeckt wird. Dieses Blau passt gut zur wassergrünen Etikette der
Flasche. Immer stärker aber setzt sich ein weißes Licht durch. Das
Blau umrandet noch einige Zeit das weiße Licht, wird immer dünner,
bis es verschwindet.
Links neben ihm stöhnt eine Frau. Nur
durch eine dünne Holzwand getrennt. Wenn es überhaupt eine Holzwand
ist. Sie wimmert und stöhnt die ganze Zeit, bis sie aufgerufen wird.
Dann hört er die Stimme einer anderen Frau.
So ist er vom Luftblasenspiel
abgelenkt. Er schaut auf die Wand links. Das leicht grünliche Weiß
hat unterschiedliche Intensitäten. Und dünklere Schattenstellen.
Von draußen drängt der Verkehrslärm herein.
Schon hängt die Flasche im Ständer.
Das bestechende Besteck liegt bereit. Das Licht brennt. Keine
Luftblasen. Pflaster sind vorbereitet. Verabredet. Warten. Die
Geräusche des Samstagsverkehrs branden in Wellen herein.
Die Flüssigkeit hat sich ein leichtes
Blau eingefangen. Wie ein Tropfen blauer Tinte in einem Glas
Leitungswasser.
Die Luftblasen steigen heute ruhiger
auf, flott, aber nicht hektisch, ein ruhigerer Tanz.
Die Luftblasen sind dunkler als
gestern, kaum zu erkennen. Nur am Glasrand leuchten sie weiß auf,
bevor sie zerplatzen.
Ein Konglomerat dreht sich im Kreis,
zuckend, bevor es zum Rand schwimmt.
Hinter der Plattenwand reden zwei
Frauen. Sein sprachliches Gehör kann es nicht verstehen. Sein
sprachloses Gehör tut so, als verstehe es.
Ich stehe vor einer grünen Wand aus
Kiefern, einer Fichte, Holunder. Ein kleiner Ahorn mischt auch mit.
Die Fichte, eingezwängt, streckt ihre spärlichen Äste zum Licht.
Die Wassertropfen stürzen sich die
grüne Wand hinunter. Der Holler blüht trotz Regen.
Alle sind müde und möchten schlafen.
Die Geräusche des Regens prasseln sanft, hart und suggestiv.
Eine schwere, angenehme, ruhige Stille
breitet sich aus und legt sich auf das ganze Gebiet.
Am Pfingstsonntag ging ich in die
Röhre. Vorher wartete ich – nur kurz – in diesen typischen
Räumen, wo man immer wartet. Modern, funktional, auf edel gemacht
und beinahe glaube ich es.
An diesem Sonntag ziemlich leer. Das
Surren der Leuchtstoffröhren in diese Leere hinein wirkt nahezu
melancholisch.
Dann in Unterhose und Socken in die
Röhre. Die Magneten stampfen, pochen, surren, hämmern. Unterlegt
ein Rhythmus wie von einem starken, mächtigen Geschirrspüler und
darüber ein schnell geschaltetes Hammerwerk. Ich habe soetwas noch
gesehen; mein Großvater hat es mir gezeigt.
Das Pochen sagt zuerst: „unter
Johnsbach, unter Johnsbach, unter Johnsbach...“, dann ändert es
auf „unter Hohenbach, unter Hohenbach...“. Ich will es ändern
auf „unter Hohenberg“, denn ein Hohenberg kenne ich, aber mein
Veränderungsvorschlag wird nicht angenommen und setzt sich nicht
durch. Das Mantra ändert sich wieder auf „unter Johnsbach“, um
sich dann allmählich in „im ganzen Bach, im ganzen Bach...“ zu
ändern.
Mir wird heiß. Ein bißchen Angst habe
ich vor Verbrennungen; beim letzten Mal hatte ich eine Brandblase
davon getragen. Aber diesmal werde ich nicht angebrannt.
Das System arbeitet, hämmert und pocht
weiter, mit kurzen Pausen, in denen nur das Geschirrspülergeräusch
übrigbleibt. Dann wird es still. Und bleibt still. Was jetzt? Kommt
noch etwas? Nein. Stille. Ich höre eine Tür sich öffnen und
schließen. Dann werde ich aus der Röhre geschoben. In Unterhose und
Socken stehe ich vor der Dame und bespreche den weiteren Ablauf. Ich
gehe in die Kabine und kleide mich an. Was heißt „kleide“! Ich
hemde und hose mich an, dann pullovere und bejacke ich mich. Als
beschuhter Möchtegernkarmelit verlasse ich die Klause – und gehe
auf einen Kaffee. Koffeinfrei, wie es sich für mich gehört.
Der viele Regen hat die Luft
reingewaschen. Ein guter Duft liegt in der Stadt, den die Autos nicht
gleich verdrängen können.
Torbögen sind wirklich angenehm. Ich
lebe Torbögen. Eine prominente Frau – ihre Stimme kennt halb
Österreich – tritt herein und wählt Mehlspeisen aus. Sie trägt
sie auf einem Tablett hinaus. Auch sie zahlt den Einsatz fürs
Tablett.
Ein bißchen geht sie so, als kennte
sie die Schmerzen des Kreuzes. Vielleicht habe ich mich auch
getäuscht.
Ein leerer Zeitungshalter schaukelt
lange, bis ihn die Schwerkraft abgebremst hat. Erstaunlich lange
widersteht er der Schwerkraft. Oder widerschaukelt ihr. Ein
unbeachtetes Perpetuum mobile. Ich war am Klo und jetzt schaukelt er
immer noch. Auch die Reibung dort am Haken, an dem er hängt, kann
ihm nichts anhaben.
Ich gehe jetzt heim; gegen die Kälte
bin ich warm angezogen.
Ich liege wieder unter den Luftblasen.
Ich schaue ihnen zu, aber das Stück kenne ich schon. Mir gefällt
die blaßgrünblaue Farbe, die die Flüssigkeit angenommen hat. Mir
war den ganzen Tag schlecht, aber im Liegen ist es noch am
Angenehmsten. Das Luftblasenspiel interessiert mich nicht mehr so,
aber dennoch schaue ich die ganze Zeit hin. Es ist das einzige, das
sich in dieser Kammer bewegt. Jetzt, beim viertenmal, durchschaue ich
es erst: es ist die Luftblase und ihr Spiegelbild auf der Oberfläche
der Flüssigkeit, die aufeinander zusaußen und sich dann vereinen.
Und sie bilden dann hoffungsvolle Konglomerate, bei denen baut sich
etwas auf – denkt man, wie Zellen, die sich vermehren, nur daß die
Luftblasen von außen dazustoßen. Trotzdem schaut es wie Wachstum
aus – aber sie zerfallen alle. Alle zerfallen relativ schnell.
Oh Gott! Ist mir schlecht!
Heute hänge ich an einer Flasche aus
Plastik. Die Flüssigkeit strahlt in einem trüben Weiß. Ich kann
keine Luftblasen sehen. Ständig halte ich nach ihnen Ausschau.
Obwohl mir das Luftblasenspiel schon fad war – jetzt, wo es fehlt,
geht es mir ab. Ich weiß nicht, wo ich sonst hinschauen könnte.
Immer wieder starre ich auf die Flasche. Das Plastik spiegelt kein
Grün und kein Blau. Ich überlege, es muß Luftblasen geben,
bei allem, was ich über Physik weiß. Das ist natürlich sehr wenig.
Die Zeit vergeht nicht. Erst ganz zum Schluß, als nur mehr wenig
Flüssigkeit in der Flasche ist, sehe ich die Luftblasen. Ich bin
erleichtert. Ich habe doch keine Revolution in der physischen Welt
übersehen
Obwohl mir noch schlecht ist, es geht
mir schon etwas besser.
©Peter
Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com