In der Verstärkerröhre der U-Bahn
gibt es nur Menschenhaftes und Menschengemachtes. Die domestizierten
Wölfe rechne ich so halb dazu. Jede ausgeschickte Emotion schlägt
von den Tunnelwänden verstärkt zurück. Wahrscheinlich müßte das
nicht so sein, aber der Blick kommt schwer aus.
Oben dann: Wind, Wolken, ein kurzer
Blick auf die Gloriette inmitten ihrer Bäume, vom Wind gewiegte
Bäume und zum Tanzen gebrachte Blätter. Der Blick kann sich
verlaufen und seine Fixierung vergessen.
Mir gefällt dieser Neubauhof mit
seinen Durchgängen, Winkeln und Ecken; er erinnert mich an den
Optimismus vergangener Zeiten, den ungebrochenen Fortschrittsglauben
meiner Jugend, als alles besser zu werden versprach.
Später dann (beim großen, schlanken
Mann) vom Ritter von der traurigen Gestalt zum Ritter der fröhlichen
Gestalt, vorgestern auf dem Umweg über den Zorn, heute
direkt bis zu dieser Erinnerung:
Damals, in den Achtzigerjahren, war ich
Mitglied der Wiener Künstlergruppe REM. Wir hatten unsere eigene
Galerie, und obwohl wir die Bezeichnung „Produzentengalerie“
nicht mochten - man könnte das Projekt so beschreiben. Wir wollten
alles ganz anderes und ganz toll machen, doch gab es schon
interessante und lustige Ausstellungen, Veranstaltungen,
Performances, Vorträge, Konzerte bei uns.
Aber das ist jetzt nicht das Thema. Es
geht nur darum, daß wir viel Arbeit hineinsteckten, auch
handwerkliche. Und einmal, bei einem Ausstellungsumbau, war ich
dabei, eine Wand abzuscheren. Das habe ich – solange es leicht ging
– ganz gerne gemacht, weil mich die Muster und Farbkombinationen
faszinierten, die beim Abscheren der verschiedenen Farbschichten zum
Vorschein kamen.
Ich scherte also still vor mich hin,
betrachtete die Farben und Muster, und die Veränderungen, die sich
beim Abscheren ergaben, und verliere mich allmählich darin.
Plötzlich erlebe ich so etwas wie
einen Ich-Verlust; es machte „zack!“ und ich war anders. Ich
wußte nicht mehr, wie ich heiße und wer ich bin. Nur nach langem,
konzentrierten Nachdenken, bei dem ich nur mit großer Anstrengung
und mühsam weiterkam, fiel mir das eine oder andere wieder ein. Zum Beispiel mein Name.
Es
war mir klar, mein „Montagepunkt“ (Carlos Castaneda) hatte sich
verschoben, oder besser gesagt, ist etwas aus seiner normalen
Position „verrückt“. Ich geriet nicht gleich in Panik, denn ich
beruhigte mich mit dem Gedanken, daß ich solche Zustände einer
anderen Wirklichkeit ja lange schon suchte und jetzt eben einen
solchen erlebe. Ich kannte - theoretisch - solche Zustände aus
Beschreibungen und konnte diesen jetzt einordnen; ich verstand, was
vorging.
Natürlich war ich etwas alarmiert,
denn mir war klar, daß ich jetzt aufpassen und beherrscht bleiben
muß, wenn ich nicht komplett verrückt werden will.
Zuerst einmal hörte ich auf zu
scheren. Monotone Bewegungen und Geräusche waren jetzt nicht das
Richtige. Dann sagte ich zu der Frau, die da neben mir arbeitete, und
deren Namen ich in diesem Moment nicht mehr wußte, daß ich nach
Haus gehe. Ich wohnte nur fünf Minuten von der Galerie entfernt,
aber dieser Weg wurde lang. Ich wußte, daß sich durch die
Verschiebung meines Montagepunktes (der montiert nämlich die
Wahrnehmung) meine Wahrnehmung verändert hatte und deswegen die
Alltagswelt in mir nicht mehr fest verankert war. Aus diesem Grund
bewegte ich mich langsam, konzentriert und bedächtig. Ich redete
ganz sanft und freundlich auf mich ein, sagte mir die nächsten
Schritte vor und sprach mich mit „lieber Peter“ an: „lieber
Peter, bevor du über die Straße gehst, schau bitte ganz genau, ob
ein Auto kommt, die können nämlich ganz schnell sein, und zwar
schau nach links und nach rechts. Und wenn du dir nicht sicher
bist, was da um dich vorgeht, dann warte einfach solange, bis du dich
auskennst. Du hast alle Zeit der Welt.“
Überhaupt, so liebevoll und freundlich
hatte ich meinen inneren Dialog noch nie geführt, und später auch
nicht mehr. Ich war wirklich gut zu mir.
Irgendwie hatte ich es geschafft, nach
Hause zu kommen. Dort habe ich mich dann hingelegt. Ich glaubte, das
wäre eine gute Idee. Aber ich wurde schnell ängstlich und unsicher
und richtete mich wieder auf. Ich war zwar nicht in Panik, aber die
Panik lauerte sozusagen am Rande meines Gesichtsfeldes auf ihre
Chance und ich durfte ihr jetzt nicht nachgeben. Darum war ich ja so
freundlich zu mir. „Schau, lieber Peter, probier, ob dir das
Hinlegen gut tut. Nein? Dann setz dich wieder auf. Du kannst es ja
später nochmals probieren. Versuche, Wasser zu trinken, vielleicht
hilft dir das. Ja, und außerdem binde dir etwas fest um den Bauch,
damit du nicht auseinanderfällst. Probier es!“
Ich tat es und das verschaffte mir
tatsächlich Erleichterung und gab mir etwas mehr Stabilität. Ich
versuchte mehrmals Liegen, Sitzen in verschiedenen Stellungen,
Herumgehen und fand dann eine Ruheposition.
Plötzlich läutete das Telephon und
ich sprang – bevor ich zum Denken kam – auf und hob den Hörer
ab. Dieses „automatische“ Aufspringen hatte mich aus meinen labilen
Zustand gerissen. Jetzt war ich absolut klar, so klar, wie ich es
noch nie in meinem Leben war. Ich wußte, was ich wollte und was ich
nicht wollte. Ich sagte „Ja“ und ich sagte „Nein“ ohne jeden
Skrupel. Ich war geradlinig, entschieden, scharf, selbstsicher und
von einer ungewöhnlichen Geistesklarheit. Ein herrlicher Zustand!
Jetzt sitze ich beim Kaffee und die
Erinnerung an meine Klarheit macht mich glücklich, fröhlich und
zuversichtlich. Madame lächelt mich verschmitzt und fast konspirativ
an. Ich verstehe zwar nicht, was sie meint, den ich verstehe das
Gespräch der anderen wegen der fremden Sprache nicht, auf das sie sich vermutlich bezieht,
aber das macht nichts.
Jetzt reden andere Andere in einer Sprache, die ich verstehe, aber ihr Gespräch verstehe ich dennoch nicht. Ich verstehe die meisten Wörter - manche werden auch halb oder ganz verschluckt - aber nicht den Sinn. Aha, über Pensionen und Steuern reden sie.
Im Spiegel bewegt der Wind die kleine
Pflanze im Blumentopf. In Wirklichkeit sehe ich nicht hin. Dem armen
Augustin kaufe ich nichts ab, und schenke ihm auch nichts.
Nebenan reden sie von hedonistischen
Freunden, die den ganzen Tag mailen, wo sie abends essen werden. Und
von maßlosen Zahlen. Ich hätte Kärnten in den Konkurs geschickt!
Die Menschen sind viel tiefer, als ich
immer denke. Innen geht es tief hinein, in ganz große Tiefen,
beinahe eine Unendlichkeit, trotz der äußeren traurigen,
fröhlichen, zornigen, lächerlichen, lächelnden, intellektuellen,
vernünftigen, unvernünftigen, dumben, distanzierten, distanzlosen,
losen, weichen, festen Gestalt. Manchmal verrät eine kleine Geste
von dieser Tiefe innen. Wenn man diese winzige Geste, die so nebenbei
geschieht, wahrnimmt, dann muß man den Menschen lieben. Ohne
diese Geste muß man nicht, aber kann – wenn man die Tiefe nicht
vergessen hat. Die Geste hilft der Erinnerung. „Ich werde euch Ruhe
verschaffen“. Ja, verschaffe mir Ruhe und Weite.
Ich sehe zum erstenmal Botendienste auf
Motorroller. Welche Botschaften bringen sie? Eine Frau ist zu früh
da; sie geht wieder ins Bureau.
Ich werde unruhig und gehe.
Ein kühler Wind zerrt und zupft an
mir, und stichelt fast und versucht umzublättern. Hodo Bell schiebt
sein Rad vorbei, in großen, festen Schritten. Ich muß an
irgendeinen alten Krauterer am Land denken. Der rote Faden legt sich
immer wieder über meine Seite, ich schiebe ihn weg, aber der Wind
hilft ihm. Der Bettler wird lästig. Ich übe das Nein-Sagen. Fast
gebe ich nach. Aber ich will. Ich argumentiere - was sinnlos ist,
aber das Reden ist nicht sinnlos. Der Bettler nimmt sein klingelndes
Handy heraus und ich muß lachen, weil es so nicht ganz glaubwürdig
klingt. Er hört nicht auf, fast weint er gekonnt. Ich muß innerlich
lachen. Morgen bekommt er etwas. Dieses Theaterstück ist auch nicht
besser oder schlechter als irgendein anders. Mein Auftritt dabei
genau wie alle anderen auch; genauso schuldig oder unschuldig oder
jenseits davon.
Ach, momentan bin ich glücklich, da,
bei meinen Lieblingsbäumen, direkt unter der lichten Birke. Der
nächste Schnorrer. Meine Lieblingsbäume scheinen sehr großzügig
zu sein.
Ganz hoch über uns ziehen dunklere
Wolken, nicht finster, aber auch nicht sehr hell. Ihre
Zuggeschwindigkeit wirkt majestätisch – nicht zu langsam, nicht zu
schnell. Rede ich zu viel? Verrate ich alles? Die Birke hinter mir
winkt mir von oben zu, aber nicht von oben herab; wie eine
natürliche, grüne, lichte und leichte Schutzmantelmadonna umfassen
ihre Zweige zart meine Energiegestalt. Der Wind wird lästiger und
kälter. Jetzt lasse ich mich vertreiben. Heute gehe ich den helleren
Weg.
©Peter
Alois Rumpf Juni 2015 peteraloisrumpf@gmail.com