Donnerstag, 18. Juni 2015

141 Die Verstärkerröhre


In der Verstärkerröhre der U-Bahn gibt es nur Menschenhaftes und Menschengemachtes. Die domestizierten Wölfe rechne ich so halb dazu. Jede ausgeschickte Emotion schlägt von den Tunnelwänden verstärkt zurück. Wahrscheinlich müßte das nicht so sein, aber der Blick kommt schwer aus.

Oben dann: Wind, Wolken, ein kurzer Blick auf die Gloriette inmitten ihrer Bäume, vom Wind gewiegte Bäume und zum Tanzen gebrachte Blätter. Der Blick kann sich verlaufen und seine Fixierung vergessen.
Mir gefällt dieser Neubauhof mit seinen Durchgängen, Winkeln und Ecken; er erinnert mich an den Optimismus vergangener Zeiten, den ungebrochenen Fortschrittsglauben meiner Jugend, als alles besser zu werden versprach.

Später dann (beim großen, schlanken Mann) vom Ritter von der traurigen Gestalt zum Ritter der fröhlichen Gestalt, vorgestern auf dem Umweg über den Zorn, heute direkt bis zu dieser Erinnerung:


Damals, in den Achtzigerjahren, war ich Mitglied der Wiener Künstlergruppe REM. Wir hatten unsere eigene Galerie, und obwohl wir die Bezeichnung „Produzentengalerie“ nicht mochten - man könnte das Projekt so beschreiben. Wir wollten alles ganz anderes und ganz toll machen, doch gab es schon interessante und lustige Ausstellungen, Veranstaltungen, Performances, Vorträge, Konzerte bei uns.
Aber das ist jetzt nicht das Thema. Es geht nur darum, daß wir viel Arbeit hineinsteckten, auch handwerkliche. Und einmal, bei einem Ausstellungsumbau, war ich dabei, eine Wand abzuscheren. Das habe ich – solange es leicht ging – ganz gerne gemacht, weil mich die Muster und Farbkombinationen faszinierten, die beim Abscheren der verschiedenen Farbschichten zum Vorschein kamen.
Ich scherte also still vor mich hin, betrachtete die Farben und Muster, und die Veränderungen, die sich beim Abscheren ergaben, und verliere mich allmählich darin.
Plötzlich erlebe ich so etwas wie einen Ich-Verlust; es machte „zack!“ und ich war anders. Ich wußte nicht mehr, wie ich heiße und wer ich bin. Nur nach langem, konzentrierten Nachdenken, bei dem ich nur mit großer Anstrengung und mühsam weiterkam, fiel mir das eine oder andere wieder ein. Zum Beispiel mein Name.
Es war mir klar, mein „Montagepunkt“ (Carlos Castaneda) hatte sich verschoben, oder besser gesagt, ist etwas aus seiner normalen Position „verrückt“. Ich geriet nicht gleich in Panik, denn ich beruhigte mich mit dem Gedanken, daß ich solche Zustände einer anderen Wirklichkeit ja lange schon suchte und jetzt eben einen solchen erlebe. Ich kannte - theoretisch - solche Zustände aus Beschreibungen und konnte diesen jetzt einordnen; ich verstand, was vorging.
Natürlich war ich etwas alarmiert, denn mir war klar, daß ich jetzt aufpassen und beherrscht bleiben muß, wenn ich nicht komplett verrückt werden will.
Zuerst einmal hörte ich auf zu scheren. Monotone Bewegungen und Geräusche waren jetzt nicht das Richtige. Dann sagte ich zu der Frau, die da neben mir arbeitete, und deren Namen ich in diesem Moment nicht mehr wußte, daß ich nach Haus gehe. Ich wohnte nur fünf Minuten von der Galerie entfernt, aber dieser Weg wurde lang. Ich wußte, daß sich durch die Verschiebung meines Montagepunktes (der montiert nämlich die Wahrnehmung) meine Wahrnehmung verändert hatte und deswegen die Alltagswelt in mir nicht mehr fest verankert war. Aus diesem Grund bewegte ich mich langsam, konzentriert und bedächtig. Ich redete ganz sanft und freundlich auf mich ein, sagte mir die nächsten Schritte vor und sprach mich mit „lieber Peter“ an: „lieber Peter, bevor du über die Straße gehst, schau bitte ganz genau, ob ein Auto kommt, die können nämlich ganz schnell sein, und zwar schau nach links und nach rechts. Und wenn du dir nicht sicher bist, was da um dich vorgeht, dann warte einfach solange, bis du dich auskennst. Du hast alle Zeit der Welt.“
Überhaupt, so liebevoll und freundlich hatte ich meinen inneren Dialog noch nie geführt, und später auch nicht mehr. Ich war wirklich gut zu mir.
Irgendwie hatte ich es geschafft, nach Hause zu kommen. Dort habe ich mich dann hingelegt. Ich glaubte, das wäre eine gute Idee. Aber ich wurde schnell ängstlich und unsicher und richtete mich wieder auf. Ich war zwar nicht in Panik, aber die Panik lauerte sozusagen am Rande meines Gesichtsfeldes auf ihre Chance und ich durfte ihr jetzt nicht nachgeben. Darum war ich ja so freundlich zu mir. „Schau, lieber Peter, probier, ob dir das Hinlegen gut tut. Nein? Dann setz dich wieder auf. Du kannst es ja später nochmals probieren. Versuche, Wasser zu trinken, vielleicht hilft dir das. Ja, und außerdem binde dir etwas fest um den Bauch, damit du nicht auseinanderfällst. Probier es!“
Ich tat es und das verschaffte mir tatsächlich Erleichterung und gab mir etwas mehr Stabilität. Ich versuchte mehrmals Liegen, Sitzen in verschiedenen Stellungen, Herumgehen und fand dann eine Ruheposition.
Plötzlich läutete das Telephon und ich sprang – bevor ich zum Denken kam – auf und hob den Hörer ab. Dieses „automatische“ Aufspringen hatte mich aus meinen labilen Zustand gerissen. Jetzt war ich absolut klar, so klar, wie ich es noch nie in meinem Leben war. Ich wußte, was ich wollte und was ich nicht wollte. Ich sagte „Ja“ und ich sagte „Nein“ ohne jeden Skrupel. Ich war geradlinig, entschieden, scharf, selbstsicher und von einer ungewöhnlichen Geistesklarheit. Ein herrlicher Zustand!


Jetzt sitze ich beim Kaffee und die Erinnerung an meine Klarheit macht mich glücklich, fröhlich und zuversichtlich. Madame lächelt mich verschmitzt und fast konspirativ an. Ich verstehe zwar nicht, was sie meint, den ich verstehe das Gespräch der anderen wegen der fremden Sprache nicht, auf das sie sich vermutlich bezieht, aber das macht nichts.

Jetzt reden andere Andere in einer Sprache, die ich verstehe, aber ihr Gespräch verstehe ich dennoch nicht. Ich verstehe die meisten Wörter - manche werden auch halb oder ganz verschluckt - aber nicht den Sinn. Aha, über Pensionen und Steuern reden sie.

Im Spiegel bewegt der Wind die kleine Pflanze im Blumentopf. In Wirklichkeit sehe ich nicht hin. Dem armen Augustin kaufe ich nichts ab, und schenke ihm auch nichts.

Nebenan reden sie von hedonistischen Freunden, die den ganzen Tag mailen, wo sie abends essen werden. Und von maßlosen Zahlen. Ich hätte Kärnten in den Konkurs geschickt!

Die Menschen sind viel tiefer, als ich immer denke. Innen geht es tief hinein, in ganz große Tiefen, beinahe eine Unendlichkeit, trotz der äußeren traurigen, fröhlichen, zornigen, lächerlichen, lächelnden, intellektuellen, vernünftigen, unvernünftigen, dumben, distanzierten, distanzlosen, losen, weichen, festen Gestalt. Manchmal verrät eine kleine Geste von dieser Tiefe innen. Wenn man diese winzige Geste, die so nebenbei geschieht, wahrnimmt, dann muß man den Menschen lieben. Ohne diese Geste muß man nicht, aber kann – wenn man die Tiefe nicht vergessen hat. Die Geste hilft der Erinnerung. „Ich werde euch Ruhe verschaffen“. Ja, verschaffe mir Ruhe und Weite.

Ich sehe zum erstenmal Botendienste auf Motorroller. Welche Botschaften bringen sie? Eine Frau ist zu früh da; sie geht wieder ins Bureau.
Ich werde unruhig und gehe.

Ein kühler Wind zerrt und zupft an mir, und stichelt fast und versucht umzublättern. Hodo Bell schiebt sein Rad vorbei, in großen, festen Schritten. Ich muß an irgendeinen alten Krauterer am Land denken. Der rote Faden legt sich immer wieder über meine Seite, ich schiebe ihn weg, aber der Wind hilft ihm. Der Bettler wird lästig. Ich übe das Nein-Sagen. Fast gebe ich nach. Aber ich will. Ich argumentiere - was sinnlos ist, aber das Reden ist nicht sinnlos. Der Bettler nimmt sein klingelndes Handy heraus und ich muß lachen, weil es so nicht ganz glaubwürdig klingt. Er hört nicht auf, fast weint er gekonnt. Ich muß innerlich lachen. Morgen bekommt er etwas. Dieses Theaterstück ist auch nicht besser oder schlechter als irgendein anders. Mein Auftritt dabei genau wie alle anderen auch; genauso schuldig oder unschuldig oder jenseits davon.
Ach, momentan bin ich glücklich, da, bei meinen Lieblingsbäumen, direkt unter der lichten Birke. Der nächste Schnorrer. Meine Lieblingsbäume scheinen sehr großzügig zu sein.

Ganz hoch über uns ziehen dunklere Wolken, nicht finster, aber auch nicht sehr hell. Ihre Zuggeschwindigkeit wirkt majestätisch – nicht zu langsam, nicht zu schnell. Rede ich zu viel? Verrate ich alles? Die Birke hinter mir winkt mir von oben zu, aber nicht von oben herab; wie eine natürliche, grüne, lichte und leichte Schutzmantelmadonna umfassen ihre Zweige zart meine Energiegestalt. Der Wind wird lästiger und kälter. Jetzt lasse ich mich vertreiben. Heute gehe ich den helleren Weg.









©Peter Alois Rumpf Juni 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite