Mittwoch, 6. November 2024

3850 Streetfighting Männele

 



12:30. Während aus den Boxen meines Lieblingscafés vorwiegend Hits aus meiner Jugend spielen – und diesmal vorwiegend die, die ich wirklich mochte - bin ich aufgewühlt von Berichten geflüchteter afghanischer Frauen, die ich gerade im Falter gelesen habe. Ich weiß, es ist sehr fragwürdig, eigentlich obszön und blasphemisch, diese Geschichten in meinem elendigen Selbstbeschreibungen und die meiner pseudautistischen Beobachtungen überhaupt zu erwähnen – weil ja auch die Tränen in meinen Augen zu narzisstischer Selbstbeweihräucherung und Überhöhung geraten können/werden/sind.

Ich bin nicht der einzige Schreibende hier – und ich meine die, die händisch auf Papier schreiben. Eigentlich wollte ich – seit neuestem ausgestattet mit der Bundesmuseumscard – ins Kunsthistorische Museum, aber überraschenderweise zögere ich immer, wenn ich das vorhabe, scheue regelrecht und gehe dann nicht hin. Warum das so ist, weiß ich nicht und ich habe noch keine Idee dazu (vielleicht weil das Kahaem seit Jahren aus Sparsamkeits- und Revierunsicherheitsgründen nicht mehr in dein Repertoire gehört und du es dir neu erobern mußt – der Tipper). Ich drehe mich mit meinen überschlagenen Beinen – auch dort findet ein Wechsel statt – von meiner bevorzugten linken Seite auf die rechte und schaue beim großen Fenster hinaus: auf den Schanigarten, die Platane und die vorbeifahrenden Autos der Burggasse, weniger allerdings auf die Hausfassaden, denn heute werden sie nicht durch strahlendes, gelbes Sonnenlicht hervorgehoben. Ich muß beim Herumschauen - vornehmlich herinnen im Café – etwas aufpassen – ich bin kein unsichtbarer Beobachter, sondern sitze mitten im – meinetwegen: am Rande des Geschehens und bin sichtbar und greifbar – das vergesse ich manchmal in meiner Scheinanwesenheit. Ich bin ja kein freischwebender Geist oder unberührbarer Traumkörper, sondern in einem irdischen Körper inkarniert, der zweifellos und vollständig dieser Welt der Dualität angehört und in ihren physikalischen, chemischen und sonstigen Prozessen involviert ist (also sag’s deutlich: man könnte dich wegen deiner Herumgafferei zur Rede stellen oder dir eine reinhauen - der innere Korrektor). Ich drehe mich wieder nach links und schlage das rechte Bein über das linke. Momentan habe ich das Gefühl, ich könnte hier bis an mein Lebensende sitzen bleiben, aber ich werde mich prognostisch nicht allzuweit aus dem Fenster lehnen, wenn ich behaupte, dass das nicht der Fall sein wird. Sicherheitshalber drehe ich meinen Kopf links über meine Schulter nach hinten, um zu schauen, ob ich etwas von den Plänen meines Todes erahnen kann – nicht dass er meine Behauptung Lügen straft und mich bloßstellt, indem er heute noch hier im Lokal zuschlägt. Street Fighting Man tönt es aus den Boxen. Ich bin nicht so ein Stones-Fan, wie es jetzt erscheinen könnte, aber damals waren sie schon vorne dabei, wiewohl ich die Cream - vorhin gespielt – auch damals höher gestellt haben würde (zumindest nach ein, zwei Jahren der Popleidenschaft) (oder Rock- das ist mir wurscht). Weil ich gerade eine sehe: ich könnte mir buntere, interessantere Jeans zulegen. Und Afghanistan? Das ist weit weg. Und die Reise des Bewußtseins ...darf überall … wie kann ich das vertretbar und glaubwürdig ausdrücken? … zu ihrem Recht kommen, ohne die grausamen Unterschiede zu verwischen. Oder?

Mein Englisch ist zu schlecht, um englischsprachige Zeitungen lesen, oder Songtexte verstehen, oder jemandem den Weg erklären zu können. Anders gesagt: ich kann gar nicht Englisch. Warum ich das herschreibe, weiß ich auch nicht. Im Lokal wird viel Englisch gesprochen, von Gästen und den KellnerInnen.

Jetzt langsam sagt mir meine innere Uhr, dass es Zeit zu gehen ist, aber nicht sosehr wegen irgendeines Termins, sondern einfach wegen des inneren Geschehens und Gleichgewichts.

Männele, es ist Zeit!


(6.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3849 Wau! Lavendelblau!

 



0:50 a.m. Im dunkleren Bereich des Zimmers tanzen und schweben schon ein wenig die Gegenstände. Die Dunkelheitsteilchen dort im Raum bringen die Luft zum Moussieren. Der lebenslang eingespeicherte Lärm in meinem Kopf entlädt sich in die Ohren. Ein paar rote Punkte steigen den CD-Ständer hinauf und verlieren sich dann. Ich ziehe einen tiefen Atemzug durch. Nun legt sich ein Blauschleier über das Bücherregal dort im Halbdunkel hinten; ein schönes Blau, das ich früher gerne zum Malen verwendet habe, dessen Bezeichnung jedoch mir nicht einfallen will (es ist dunkler als Lavendelblau). Ich lege mich gleich zum Schlafen; ich fürchte, dass ich sonst eine Depression herbeischreibe.


9:31 a.m. Wau! Habe ich heute lang geschlafen! Und ich tu mir ein bisschen schwer, damit zurechtzukommen und mich neu zu organisieren. Der graue Tag verstärkt die seelische Orientierungslosigkeit, dabei sind meine Tagespläne schon recht klar. Nun gut, dann schäle ich mich heraus!


(6.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3848 Die Pullmanmütze

 



13:08. In Hof 9. Die Absperrungen sind größtenteils weg, der Blick geradeaus verfängt sich nicht mehr in den Gittern vor der Nase. Die Sonne kommt im Sinken gerade noch über den Dachfirst. Viele StudentInnen sind unterwegs, und ein paar andere. Ich überprüfe die Tabletten, die ich in der Apotheke gekauft habe, ob sie wirklich die richtigen sind. Sind sind es – scheint so. Noch habe ich Sonne. Ich finde auf der Bank nicht gleich die gewohnte Schreibposition; irgendetwas stimmt nicht. Baustellenlärm aus den Höfen daneben, und auch sonst viel Unruhe von der Straße her. Ich werde tiefer in die Anlage gehen. Der Wind wirbelt die Blätter am Boden auf und reibt sie über den Asphalt. Das Geplauder, Gekicher und Geschnurre nebenan macht mich heut nervös. Vielleicht ist mir einfach zu kalt. Ich suche einen anderen, abgelegeneren Hof.

13:28. Ich wollte den Hof 4, den ich noch nie betreten habe, aufsuchen, aber der aufgegrabene Weg, ein massiver Baustellenelkawe gleich am Eingang haben mich abgeschreckt. So sitze ich jetzt in Hof 2 in einem locker und metallen eingezäunten Rosenbereich. Etwas eigenartig das Ganze und ich mitten drin (Rosen und so: das sind nicht die Orte, wo ich mich sehe), aber immerhin in der – windigen – Sonne. Zehn Meter weiter strickt eine Frau auf ihrem mitgebrachten Klappsessel, manche StudentInnen sitzen an die sonnenbeschienene Hauswand gelehnt am Asphaltboden: eine mit angezogenen Knien, einer mit ausgestreckten Beinen, eine im Schneidersitz. Der Hof 2 ist relativ groß und mit seinen Bäumen, Wiese und dem blättertreibenden Wind fast schon eine kleine Landschaft. Der Himmel ist blau, mit dünnen weißen Schlieren aus alten Kondensstreifen durchzogen (ja, die altern schnell!). Ein Blick auf die Uhr – Zeit habe ich noch genug. Ein Mann geht seit Minuten allein auf der Wiese im Kreis, er macht ständig ähnliche Gesten und wirkt – sagen wir: angestrengt. Jetzt schaut er auch herum, aber geht immer in seinem Kreis, der allmählich zum Oval wird. Wartet es auf wen? Beobachtet er wen? Will er eine Frau verfolgen und passt sie ab? Jetzt dreht er sich abrupt um und verläßt die Wiese. Ich verliere ihn hinter dem Gesträuch aus den Augen. Vielleicht ist er in das Gebäude gegangen und war nur wegen eines Prüfungstermins nervös. Auch ich werde weitergehen.

Mein Schatten an der Hauswand mit dieser letscherten Pullmanmütze am Kopf ist mir fremd.


(5.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3847 Pirker, Steiner, Brunner

 



8:30 a.m. Das ferne Flugzeug pfeift über den städtischen Morgen. Mein Kopf ist vom inneren Dröhnen eingehüllt. In Mali Lošinj erhebt sich im rechten Bildvordergrund eine tendenziell menschliche Gestalt aus Straßen- und Lichtsubstanz; noch ist sie krumm und recht undeutlich und sie hat sich noch nicht aufgerichtet und gestreckt. Oder ist es umgekehrt? Ein Mensch alt und gebeugt sinkt nieder und beginnt sich in Straßenstaub und Licht aufzulösen? Auch heute zieht mich die Rettenschoesser Landschaft – verlässlich menschenleer – ungemein an. Ich lasse meinen Blick über das Riesneralm-Lichtloch drübergleiten und erreiche so Veli Lošinj, das heute auf den ersten Blick nichts offenbart, obwohl es den Eindruck macht, als würde die Stadt schweben. Wie heißt nur der Bungalow oben über der Teufelsgrube? Mir fällt der Name des Besitzers nicht und nicht ein. Es ist auch ganz unwichtig. Ich weiß sowieso nicht, wieso mir das Haus aus der Kindheit und sein Eigentümer einfallen sollen. Pirker! Ich hab’s: Pirker! Eigentlich ein schöner Name. Was war er? Rechtsanwalt? Ich habe nie mit ihm etwas zu tun gehabt; wir sind nur in die Nähe des Hauses gekommen, wenn wir über die Spalt-Wiese zur Teufelsgrube sind. Die kleine Holzfigur im Regal will sich unbedingt verdoppeln und ihre Art von Schildkröte auf Spatzen wechseln. Die frankophone Schweizerin ist heute nicht dicker als in echt, eher wirkt sie etwas ausgemergelt und krank dort im düsteren Bereich, aber sie bewegt sich leicht, schaukelt und dreht sich ein wenig. Mein kleiner Heuwagen fällt mir in die Augen; den habe ich jahrelang nicht mehr beachtet. Steiner ist auch ein schöner Name. Wie auch Brunner.


(5.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 4. November 2024

3846 Anblick

 



10:16 a.m. Die Bäume im Hof haben fast alle ihre Blätter abgeworfen und halten ihre nackten Äste über die Häuser hinaus in den herbstblauen Himmel. Das Sonnenlicht gleißt von der Dachrinne abwärts zwei, drei Meter nach unten und erzeugt ein von Schattenstrichen durchzogenes Leuchten an der Hauswand, dass meine Seele betört und so berührt, dass ich den Blick nicht mehr abwenden will. Nur leise schaukelt eine leichte Brise die restlichen Blätter an den Bäumen, dreht sie vorsichtig, nur am Weidenbaum sind noch viele, sodass Zweige und Äste in Melancholie versunken im zarten Wind tanzen. Ein Anblick für die Ewigkeit. Eine unsägliche Sehnsucht ergreift mich, als ich diese Mauern und Dächer und Bäume im Herbstlich betrachte. Etwas Zeitloses, Überwältigendes drängt in meinem Inneren nach außen. Meine disziplinierten Augen staunen und staunen über die Fülle im Belanglosen, Alltäglichen, bis sie dann allmählich müde werden. Die Stöße eines Seufzers schütteln mich durch und ich löse mich vom Anblick. Was verspricht dieser Anblick? Was will er verheißen?


(4.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3845 Kopfstoß

 



9:03 a. m. In meiner Vernetzung aus Schlaf, Schmerzen und Ungelenkigkeit habe ich das Rollo hochgezogen, um Licht in mein Zimmer zu lassen, und oben unter dem Plafond, in Mali Lošinj ist ein weißer Fleck erschienen und hat sich dann wieder aufgelöst. Ist wieder erschienen und hat sich unmerklich bewegt. Ich wechsle auf Rettenschoess. In Rettenschoess scheint sich eine grüne, dichte Waldmasse ins Bild zu fressen – eine betörende Landschaft entsteht, ich möchte hineingehen (ein wenig ängstlich wäre ich schon). Veli Lošinj ist trotz weicher Konturen heute schärfer, vermutlich weil es fast ein Schwarzweißbild ist, aber als ich lange hinschaue, öffnet es sich ein wenig und man kommt ein wenig in die Stadt hinein. Die Sonne am Photo der winterlichen Riesneralm-Waldabfahrt brennt heute wieder ein Loch in die Zimmerwand, ein gleißendes weißes Loch wohlgemerkt, nicht aus Verbranntem, sondern aus Licht. Auch die Rettenschoesser Berge, die im Hintergrund, fangen an ihren Rändern zu leuchten an, dann auch an ihren Flanken. Ich bin in einen Kopfstoß abgeglitten, den ich drüben irgendwem verpasse, oder war das gar nicht ich? Reichlich Bilder und Szenen stürzen auf mich ein, so viele, dass meine Aufnahme nicht nachkommt. Ach, und meine ewig verkrampfte linke Hand! Die kann ich auch nicht mehr umgewöhnen. „Du hast …“ sagt eine weibliche Stimme, aber mehr bleibt beim Überwechseln nicht über. Oder war da etwas mit Kinder verdrängen? Ich schlage die Augen auf und alles ist ruhig, still, unbewegt - steht einfach so da und gibt sein Licht ab.


(4.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3844 Bücherregal?

 



1:01 a.m. Morgen das neue Bücherregal? Ich weiß nicht. Bei mir dauert so etwas immer etwas länger. Bis es in meinem Inneren zurechtgerückt ist und zu einem eindeutigen und sicheren Impuls geworden ist. Vielleicht ein paar vorbereitende Arbeiten heute, wie Nachschauen, was alles an Schrauben, Nägel, Dübeln und Eisenwinkel da ist, ein bisschen ausmessen und die Ergebnisse auf ein Zettelchen notieren? Ich weiß nicht. Vielleicht brauche ich nach dem verlängerten Wochenende ein paar Tage Einsamkeit und Tagträumerei.

Meine Augen und mein Gehirn spielen mir Streiche und setzen die angeschauten Bilder ganz anders zusammen. Meine Kratzelzeichnung fängt zu moussieren an und wird ein ganz klares, tolles Bild. Die Platane meiner Tochter bewegt ihre Zweige; zugegeben: etwas steifer und verhaltener als in einem irdischen Wind. Der auferstandene Christus wird zu einem schwebenden Amboss. Der Lehrende wird zu einer langhaarigen Frau, die während ihres unhörbaren Vortrags den Kopf hin und her dreht. Die kleinere der frankophonen Schweizerinnen hat ihren Oberkörper schon entkleidet. Auch die Prostituierte von Modigliani bewegt sich, wenn auch fast unmerklich. Die Hörer des oder der Lehrenden sind ganz lebhaft und stellen sich in Grüppchen zusammen. Aber ich, ich werde immer müder. Die Augen fallen mir zu und meine Abenteuer haben sich nach drüben verlagert. Die rechte Hand zuckt unwillkürlich aus.


(4.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com