Donnerstag, 17. Oktober 2024

3822 Überlebensmodus

 



6:48 a.m. Draußen ist es noch dunkel, aber ein Traum hat mich aufgeweckt und ich kann nicht mehr einschlafen. Ich versteh zwar nicht, was sich wieso so aufgewühlt hat, aber ich grüble wieder in meiner Lebensgeschichte. Das Surren in den Ohren ist sehr laut und es ist deutlich, dass noch nicht alle Fasern meiner Seele hier an Ort und Stelle sind. Die Augen sind mir zugefallen und ich döse jetzt doch in meiner hockenden Position im Bett. Ich sehe an den Fensterscheiben, dass die Dämmerung schon eingesetzt und sich die dunkle Nacht in einen blauen Morgen verwandelt hat. Dann fallen mir wieder die Augen zu und ich höre die dröhnende Stille, die einen beinah substantiellen Druck auf meine Ohren ausübt. Wenn ich die Leselampe abdrehe, wird das Dunkelblau der Dämmerung draußen hellgrau. Die Formen und inneren Strukturen meines Surrens und seine Dynamik sind recht interessant, und so intensiv und vielgestaltig, als würden kleine Geräuschlebewesen fleißig und eigenständig an ihrem gemeinsamen Werk arbeiten; fast kann ich hören, wie sich einzelne hineinsteigernd überanstrengen und verausgaben und dann nach einem letzten Ausbruch verschnaufen müssen, um dann von Neuem weiterarbeiten zu können. Inzwischen ist auch das Licht am Fenster auch bei aufgedrehter Leselampe ein Hellgrau mit blauem Stich.

Da fällt mir ein, meine linke Hand zu entkrampfen und das Notizbuch mit geringerer Kraft und Anstrengung festzuhalten. Ein wenig geht mir mein ständiger Überlebensmodus schon auf die Nerven; als wäre ich ein Ertrinkender im Ozean, der sich an einer im Wasser treibenden Holzplanke festkrallen muß.


(17.10.2024)


©Peter Alois Rumpf Oktober 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3821 Ich liege unter der Decke

 



0:05 a.m. Ich liege unter der Decke und habe mit Vergnügen gelesen. Ich genieße die Stille hier in meiner Kammer und dieses mein Reich mit den vielen Büchern und Bildern und sonstigem Zeug. Einfach, in dem ich meinen Blick eher absichtslos und unzentriert über alles gleiten lasse. Ein wenig ist mir kalt, aber gerade so, dass es einen ein wenig schärft und wach hält, ohne gleich die wohlige Müdigkeit ganz zu vertreiben. Ich habe es doch gut getroffen! Im Moment verstehe ich mein häufiges Unglücklichsein nicht. Und ich werde mich nun zum Schlafen betten. Ein wenig hoffe ich, Schönes zu träumen, oder gar luzide.


(17.10.2024)


©Peter Alois Rumpf Oktober 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3820 Der Sickerbrunnen

 



12:47. Nix Albertina! Die Jahreskarte ist abgelaufen. Die Bundesmuseumsjahreskarte kaufen? Kommt im November das Weihnachtsgeld? [übrigens: 1247: Das Salzburger Domkapitel wählt einstimmig Philipp von Spanheim, einen Sohn Herzog Bernhards II. von Kärnten, zum Nachfolger des im Vorjahr verstorbenen Erzbischofs Eberhard von Regensberg. Um seine Erbansprüche auf Kärnten nicht zu gefährden, lässt sich Philipp jedoch nicht weihen. Papst Innozenz IV. ignoriert die Wahl daher und ernennt am 25. Februar den Kaisergegner Burkhart von Ziegenhain zum neuen Erzbischof von Salzburg. Am 6. März wird Burkhart in Lyon zum Priester und Bischof geweiht, ehe er kurz darauf vom Papst das Pallium erhält. Burkhart gelangt jedoch nicht mehr nach Salzburg. Er ertrinkt am 23. oder 25. August auf der Reise von Lyon nach Salzburg im Bodensee. Ob es sich dabei um einen Unfall oder eine gewaltsame Beseitigung handelt, ist ungewiss. Philipp von Spanheim folgt Burkhart als Administrator und Elekt, ohne jemals die Weihe zu erhalten. (einfach aus Wikipedia kopiert)]
Ich bin in einem traditionellen Wiener Kaffeehaus; ich wollte in die Albertina. Nicht so ganz meins, dieses Kaffeehaus. Hier gibt es jetzt auch schon diese Unart, sich vom Kellner an einen Platz führen lassen zu müssen und nicht mehr selbst seinen Platz zu wählen. Gerade in solchen traditionellen Wiener Kaffeehäusern darf man die Kellnern niemals so viel Macht geben! Eine ganze Schlange (ich gebe ungern zu: der Touristenandrang ist schon ein Argument für diese Lösung) steht schon beim Eingang und wartet. Mich macht das nervös; ich werde gehen. Ich rufe dreimal den Kellner „zahlen!“ zu, bevor er überhaupt herschaut und meine Ansage zur Kenntnis nimmt; und das heißt noch lange nicht, dass er zum Kassieren kommt. Nein, ich mag die traditionellen Wiener Kaffeehäuser nicht in der Form, wie sie sich heutzutage geben (ob ich sie früher gemocht hätte, weiß ich nicht. Vermutlich auch nicht). Wie gesagt: ich gestehe schon zu, dass es mit dem Zunehmen der Touristenströme schwerer geworden ist; ja, das gestehe ich zu.

Jetzt sitze ich am Graben und schaue auf eine ziemlich blade, etwas verunglückte Skulptur, vielleicht ein Brunnen außer Dienst, so genau weiß ich das nicht, denn ich bin zu weit entfernt, meine aber an ihm Spuren von Wasser zu sehen. Vielleicht ist es ein Sickerbrunnen, an dem Wasser in ganz geringer Menge herabrieselt und es keinen Wasserstrahl und kein deutliches Gerinne gibt. Ich werde hingehen und nachschauen. Nein, ein Brunnen ist das nicht. Eine Skulptur. Was ich für Spuren von Wasser gehalten habe, waren eingetrocknete Farbspuren, offensichtlich absichtlich als gestaltendes Element angebracht. Als Sickerbrunnen hätt mir das Ganze besser gefallen, wo Wasser in so geringer Menge herunterrinnt, dass nur ein paar feuchte Streifen erkennbar sind. Wie die Rinnsale einer gesprungenen Teekanne zum Beispiel.


(15.10.2024)


©Peter Alois Rumpf Oktober 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3819 Die Waldschneise

 



8:49 a.m. Heute morgen waren meine Träume ganz angenehm, auch wenn sie, wie alle gewöhnlichen Träume, zu nichts Rechtem geführt haben. Das Rollo habe ich schon hochgezogen und so eine Art Morgenschnupfen treibt mir Tränen in die Augen. Der schwarze Holzrabe am Fenster schaukelt schon mit weit ausgebreiteten Flügel in der Aufwärme der Heizung (wann werde ich die meinen ausbreiten?).

Ich plane ganz locker meinen Tag so vor mich hin; Museumsbesuch ist im Moment die bevorzugte Option. Der Abbé Pierre – der Vatikan kannte die Mißbrauchsvorwürfe seit 1959 – geistert in meinem Kopf herum, 1989, als ich ein paar Monate in Paris lebte, ist er auch zum beliebtesten Franzosen gewählt worden. Da habe ich zum erstenmal von ihm – gerade in der Libération - gelesen und war über diese Wahl im laizistischen Frankreich erstaunt und nicht mißtrauisch.

Meine Gedanken wandern wieder zum heutigen Tag zurück und es wird wohl die Albertina werden (wenn meine Jahreskarte noch gilt). Mein Blick gleitet noch ein wenig über die Rücken der Bücher an der Wand, wobei es mehr um deren Farben geht und ihre Kombinationen, sowohl auf den einzelnen Buchrücken, als auch um die durch die Zusammenstellung (wörtlich!) der Bücher entstandenen. Ach – jetzt erst fällt mein Auge darauf: die drei Bilder oben unter dem Plafond – Mali Lošinj, Rettenschoess, Veli Lošinj – blicken mich heute so frisch, offen und strahlend an, dass es einem das Herz erfreut. Die kleine Photographie der winterlichen Riesneralm-Waldabfahrt nehme ich erst beim zweiten Drüberstreifen auf. Und erst als ich den Blick länger darauf verweilen lasse, zieht mich die wolkenverdeckte Wintersonne in der Waldschneise an, dass mir eine ungeahnte Sehnsucht durchzubrechen droht, die in einem Weinkrampf enden würde, könnte ich sie zulassen. Ich mag mich vom Anblick der vier Bilder nicht lösen; Wellen der unterschiedlichsten Empfindungen und Gefühle laufen durch mich.

Die Rufe der Tageskinder im Stiegenhaus, die aus dem Augarten kommen, lösen mich allmählich aus diesem entrückten Zustand und ich merke, dass ich Hunger habe und frühstücken will.


(15.10.2024)


©Peter Alois Rumpf Oktober 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3818 Jetzt schlafe ich

 



0:42 a.m. Wir können lesen, wir können schreiben, wir können schlafen. Ich meine jetzt, um diese Uhrzeit.

1:54 a.m. Ich habe gelesen, jetzt schreibe ich und nachher werde ich schlafen. Zwischendurch aber habe ich die durch eine ungeschickte Bewegung meinerseits abgestürzte Holzmöwe wieder über meinem Kopf aufgehängt und festzumachen versucht. Schauen wir, ob die Sache hält.

Und jetzt schlafe ich.


(15.10.2024)


©Peter Alois Rumpf Oktober 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 14. Oktober 2024

3817 Die kleine Ameise

 



16:02. Ich sitze zu ungewöhnlicher Stunde im Esbege (auch ich kann Abkürzungen! (Achtung! Leicht irreführend!)), am Zweierplatz direkt links vom viersitzigen Fensterplatz. Cappuccino numero II. Die Stimmung ist irgendwie anders, ohne das mystifizieren zu wollen (was heißt das jetzt genau? - der innere Spötter). Naja, dass die andere Stimmung mit der Tageszeit, mit mir zu dieser anderen Tageszeit, mit den gleichartigen Gästen vom Vormittag zu dieser anderen Tageszeit, mit anderen Gästen zu dieser Tageszeit zu tun haben kann oder auch nicht, und dass ich daraus nicht allzuviel ableiten kann. Ein Nachmittag ist ein Nachmittag ist ein Nachmittag. Eine winzig kleine Ameise krabbelt über mein Notizbuchblatt, recht flott eigentlich. Hat sie Angst, weil sie ihre Herde verloren hat? Wo kommt sie überhaupt her? Was hat sie für Überlebenschancen, auch wenn ich sie vorm Zuklappen des Notizbuches entferne? Wo kann ich sie sinnvollerweise hin tun? Ihr enormes Tempo deute ich als Panik, ebenso ihr unsinniges (?) Hin und Her. Ich brauch mich wirklich nicht zu beklagen! 70 Jahre nicht zu Tode zerquetscht worden zu sein, das ist schon sehr, sehr viel. Jetzt ist die Ameise verschwunden. Irgendwo zwischen die Blätter gekrabbelt? Jetzt ist sie wieder da. Nun ist sie wieder verschwunden (ich verliere sie ständig aus den Augen, so rast sie herum). Jetzt ist sie wieder da. Ihr Lauf behindert mich beim Schreiben: ständig muß ich mit dem Pilotstift, mit meiner Schreibhand, mit der linken Hand, die das Notizbuch – tendenziell immer zu fest – festhält, ausweichen. Jetzt läuft sie quer über die leere rechte Seite. Eine liniengraphische Anregung für den Parcour meiner Schrift kann ich nicht erkennen (ich hoffe halt immer, dass das Universum zu mir spricht). Jetzt hat sie meinen linken Daumenstumpf erklettert. Nun ist sie auf dem beigen Pulloverärmel. Vielleicht ist es so am besten. Aber wenn ich sie so nach Hause trage, werden sie die dort heimischen Ameisen töten? Ich glaub schon. Nein, ich brauch mich über mein Leben wirklich nicht beklagen! Außer ich hätte die Ameise schon von zu Hause mitgebracht - was mir unwahrscheinlich vorkommt – hätte sie dann eine Überlebenschance? Wenn doch: in welchen Stamm gehört sie? Zu denen im Wohnzimmer unten? Oder zu denen im Atelier heroben? Oder zu denen im Musikzimmer? Und zwischen denen vermute ich auch Kriegszustand. Ich habe sie schon ein paar Minuten nicht gesehen. Ich beginne schon, meine Aufmerksamkeit von ihr abzuziehen und sie weiter dann zu vergessen. Tatsächlich: man muss glauben, dass jedes Lebewesen … seinen Tod … nein, das ist in dieser Welt nicht haltbar! Ein paar Musikstücke jetzt – freilich sind die Boxen auf geringe Lautstärke gestellt - klingen wie von Captain Beefheart, können es jedoch nicht sein, denn sonst würde ich sie kennen (seht ihr?! Die Ameise ist schon vergessen). Nach Hause? (mit oder ohne Ameise, tot oder lebendig). Geschirr ist schon im Spüler, die meiste Arbeit ist getan. Es juckt mich hinterm rechten Ohr; ist da die Ameise hinaufgeklettert? Vielleicht habe ich jetzt beim Versuch – falls sie wirklich dort war – sie herunterzunehmen, zerdrückt? Sie ist so klein und ich sehe nichts. Habe ich mir etwas vorzuwerfen? Ich glaube nicht. Und wenn ich der Zerquetschte wäre? Würdest du dann auch so denken? Besser nach Hause. Zu Fuß? Mit Bus? Gemischt?


(14.10.2024)


©Peter Alois Rumpf Oktober 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3816 Der freistehende Steinquader

 



13:20. Ich sitze auf einem freistehenden Steinquader, der mehr so in der Wiese liegt, direkt gegenüber dem josephinischen Narrenturm, direkt vor mir ist der Eingang zur pathologisch-anatomischen Sammlung, die ich sicher nicht anschauen will. So halb schaut es hier nach Baustelle aus. Die windgetriebenen Blätter rascheln am Asphalt; ein Blechtor schlägt überlaut zu und vibriert lärmend ein paar Sekunden nach. Ich befinde mich schon in der Sonne; die abgestellten Autos mag ich nicht.

Mich krümmt es recht zusammen. Die FußgängerInnen gehen mir zu nah vorbei, aber so sind die Wege und Steinquader halt angelegt. „Way to success“ steht auf dem Fahrradständer. Für mich nicht mehr, ich bin schon abgesackt. Die Linde, unter der ich sitze, scheint krank zu sein; ich glaube nicht, dass das der Herbst ist. Ist das überhaupt eine Linde? Mein Gott, ich kenn mich mit Bäumen immer noch nicht aus! (er weiß schon, dass das eine Linde ist, er läßt sich nur ständig verunsichern – von innen und von außen – der innere Korrektor). Manche Leute schleichen vorbei, wie ohne sich zu bewegen; andere erzeugen viele Luftwirbel bei jedem kleinen Schritt. Auch ein großes Roßkastanienblatt mit langem Stiel zuckt am Boden in der Windböe, während die kleinen Lindenblätter sich überschlagend nur so vorbeisausen und am Asphalt kratzen. Ich hocke so verdammt verkrümmt da. Ich bin so ein eingeschüchteter Mensch. Der Wind bläst mir unter die offene Jacke. Mir wird kalt; ich muß herumgehen.


(14.10.2024)


©Peter Alois Rumpf Oktober 2024 peteraloisrumpf@gmail.com