Freitag, 21. Juli 2023

3299 Mein Zentralnervensystem

 



Im Warteraum der Ordination. Erdgeschoß, darum lärmt die Straße so stark herein, aber eigentlich finde ich es toll: ebenerdiger Zugang zur Ordination direkt von der Straße, ohne durch diese monströsen, hässlichen, einschüchternden 19. Jahrhundert-Stiegenhäuser zu müssen. Der Ventilator – wenn dieses Ding da überhaupt noch so heißt – ist für ein solches Gerät relativ ruhig und dezent und schickt angenehmen Wind aus. Wie er das macht, weiß ich nicht, ich sehe nichts Rotierendes, nur er selber dreht sich hin und her. Ich gehe hin und versuche es herauszufinden. Ein Mann erklärt mir, wie das Ding funktioniert, aber wirklich verstanden habe ich es nicht.

In einer Ordination möchte ich nicht alt sein; ich lehne das Altsein in Ordinationen entschieden ab. Mir sind solche Orte immer unangenehm. Noch schlimmer sind Spitäler. Gottseidank war ich noch nie in einem eingeliefert. Der Gerätewind ist bei dieser schwülen Hitze wahrlich angenehm, aber wohlfühlen kann ich mich hier nicht (ich schreibe zur Selbstbehauptung, dass ich nicht im Vorfeld schon untergehe). Vermutlich schreibe ich überhaupt zur Selbstbehauptung.

Ein alter Mann liest ein Buch – da wäre ich zu aufgeregt für (ich kann auch Bundesdeutsch!), alle anderen smartphonisieren (ich kann auch Worte erfinden). Die Ordination ist klug gestaltet, zum Beispiel gibt es an der Wand eine durchlaufende Sitzbank – und das in Zeiten wie diesen! Das ist wirklich gut gelöst, dazu fünf Sessel (deutsch: Stühle), eine Glaswand, die mit blickdichten Streifen durchzogen ist: man sieht genug durch, dass man sich auskennt und das Geschehen dahinter im Eingangs- und in den Gängen zum Ordinationsbereich mitbekommt, aber fühlt sich dennoch vor den Blicken geschützt. Wirklich nicht schlecht. Und der unvermeidliche Propagandabildschirm ist – Dankeschön! - stumm und finster. Trotzdem fange ich an unruhig zu werden. Ich werde mir ein Wasser holen.

Aus den Lichtverhältnissen schließe ich, dass Wolken aufgezogen sind. Naja, die obligatorische Schusterpalme oder wie die Pflanze heißt. Ich gehe jetzt nicht hin und überprüfe, ob sie aus Plastik ist oder lebt. Ich warte also.

Jetzt warte ich schon ein wenig lang und habe den Verdacht, dass schon einige später gekommene vor mir drangekommen sind und ich beginne mich zu ärgern. Aber ich weiß es nicht wirklich – nur das ist klar: auch ich hatte einen fixen Termin – und ich durchschaue das hiesige System nicht – wie alles in der Welt – überhaupt nicht. Ich versuche mich zu beruhigen. Vergeblich. Nicht gut bei einer Herzuntersuchung. Bin mindestens auf 150. Das Wartezimmer ist fast leer. Sicher haben die mich zurückgereiht; ich warte schon gut eineinhalb Stunden und Patienten, die nach mir bei der Tür hereingekommen sind, sind vor mir behandelt worden. Hinnehmen oder aufregen? Wenn und wo immer ich mich lautstark aufrege, bin ich immer noch letztlich als Trottel dagestanden, weil ich wirklich ins Unrecht gerannt bin (Nachtrag: die nach mir könnten ja in ihrer Wartezeit weggegangen sein und später wiedergekommen) oder meinen Aufstand nie durchhalten konnte und mich immer verunsichern habe lassen. Jetzt geht mir auch der Lärm hier immer mehr auf die Nerven; selbst das moderate Surren des Ventilators (oder was das ist) finde ich in Wahrheit aufdringlich und Nerven zersetzend.

Ich werde aufgerufen und komme dran. Aller Groll ist weg; einfach weggeblasen. Ich bin ganz brav und kooperiere vorbildlich, mache meine halblustigen Scherze (glaube ich das tun zu müssen, um die Autoritäten milde zu stimmen um zu verhindern, dass ich vor Gericht komme oder gelyncht werde?). Anscheinend unterstelle ich immer noch, dass ich fürs Bravsein (und das ist wirklich nicht tapfer; höchsten gegen das eigene Empfinden) in den Himmel komme? Obwohl ich weiß, dass dem garantiert nicht so ist? Offensichtlich hat diese Botschaft mein Zentralnervensystem noch nicht erreicht.

(20.7.2023)

Peter Alois Rumpf Juli 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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