Dienstag, 18. Juli 2023

3294 Improvisation im Musikzimmer

 



Im Musikzimmer. Es ist sehr heiß in der Wohnung, die Vorhänge sind zugezogen. Ich habe eine Platte des von mir verehrten Musikers und Geigers Leroy Jenkins (Space Minds, New Worlds, Survival of America. 1978. Mit Andrew Cyrille, Anthony Davis, Georg Lewis, Richard Teitelbaum) aufgelegt, eine Platte, die ich offensichtlich vergessen hatte. Nicht nur, dass ich nicht wußte, dass ich sie besitze, ich kenne sie kaum oder gar nicht. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie gekauft habe und nicht daran, sie jemals angehört zu haben. Solches gibt es bei mir: mitten im Alltagsgeschehen entdeckt und schnell gekauft und dann abgelenkt, das Ding in den Plattenstapel gegeben, vergessen, jahrelang kein Plattenspieler zur Verfügung … Also ich sitze hier und lasse mich auf die ungewöhnliche, unbekannte Musik ein, während einen Stock tiefer die Tageskinder jausnen und spielen und meine Frau niest. Der Wind bewegt den weißen Vorhang, der das Ambiente draußen durchschimmern läßt. Ah! Jetzt erkenne ich das Stück wieder: ich habe die Platte doch schon angehört. Mich dürstet, ich verlasse kurz das Musikzimmer und hole mir den ausgekühlten Kräutertee. Ich muß mir die Musik wirklich wieder neu erarbeiten. Das macht nichts. Ich bin zu solcher Arbeit bereit. Diese Arbeit ist mir ganz wichtig für die Erweiterung meines Horizontes und meines Bewußtseins (darum kann ich zum Beispiel auch mit den Frusciante/Flea/Smith Jam-Improvisations-Passagen im Konzert der RHCP in Wien, über die sich ein Kritiker mokiert hat, etwas anfangen und sie genießen. Aber darum geht es nicht; das ist nur ein Nebeneffekt). Ich lächle über die vier unterschiedlichen Kleiderhaken, die vom Hochbett hier im Musikzimmer (das ehemalige Kinderzimmer) herabhängen. Die zweite Seite ist jetzt zum Drehen dran und so geht es munter weiter. Die Hitze der letzten Tage setzt mir ordentlich zu und ich drifte mit der Musik davon. Was sagen meine Pflanzen, die nicht die meinen sind, dazu? Leroy Jenkins wiederholt sich öfters und spielt Passagen, die ich schon aus Stücken mit dem Revolutionary Ensemble kenne. Hänge ich manchmal falschen Größen an? Gottseidank wird sich das beim Tod klären und herausstellen. Leroy Jenkins gehört - glaube ich - nicht dazu, aber sicherlich W.D., der bajuwarische Affenarsch. Der Verkehrslärm von der Straße stört eine zarte, gezupfte Passage. Das Auto ist um die scharfe Kurve gekommen und hat es geschafft, weiterzukommen; die Musik verdichtet sich wieder. Verdammt! Ich kann mich jetzt kaum auf die Musik konzentrieren, weil mein Geist – selber schuld! - mit dem Döbereiner rauft und um Wahrheit kämpft. Ja selber schuld, warum habe ich ihn eingeführt und sich in meiner Seele sich ausdehnen lassen! Komm zurück! Komm zurück! Du kannst das Versäumte nicht nachholen und das, was du nicht gesagt hast, so nicht retten.

Jetzt habe ich mir Serge Prokofieff und Alexander Tscherepnin aufgelegt, die ich mir – so glaube ich – noch nie angehört habe, da ich immer nur die erste Seite der Schallplatte, nämlich Bela Bartoks Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3, das ich liebe, aufgelegt hatte, während unten – ich höre es – die Tageskinder meiner Frau helfen, die Legosteine einzuräumen. Mir ist heiß. Ich werde mich nachher in die kalte Badewanne legen. Jetzt aber lasse ich mich vom musikalischen Virtuosenrausch wegtragen. Und jetzt von den präzisen Bagatellen sinnlich beeindrucken.

Ah! Jetzt springt die Nadel über die Kratzer der uralten Schallplatte. Ich gehe dauernd mit Technik um, die ich weder verstehe noch beherrsche. Das ist ein permanenter großer Stress für mich, weil ich nie weiß, ob ich’s richtig mache oder alles ruiniere; vom Plattenspieler bis zur Fotografierfunktion am Smartphone, Laptopschreibmaschine, Internet etc. etc. etc.

(18.7.2023)

Peter Alois Rumpf Juli 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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