Mittwoch, 26. April 2023

3181 Oben





Ich sitz im “Oben“ am Dach der Hauptbücherei und spiel Kaffeehausliterat (Single). Ein schlechtes Gewissen habe ich schon, weil Mittagszeit ist und hier doch Restaurantbetrieb gewollt ist – wie mir scheint – und ich nichts esse. Ich sehe in der Helligkeit des Höhenstandorts, dass die Haut meiner Hände wie Schlangenhaut ausschaut. Ich reptiliere (gefällt mir besser als verkäfern!). Wurscht! Ich hasse Lokale, die auf Café machen, aber Bobo-Restaurants sein wollen und der Tisch wackelt. Aber – was wirklich für diese Stätte spricht – es gibt echte, bittere Zotter-Trinkschokolade, da nehme ich alles andere gern in Kauf. Abgesehen davon, dass mir bisher niemand Vorwürfe gemacht hat, dass ich um diese Mittagszeit bloß köstliche Trinkschokolade trinke (Kaffee verbiete ich mir zurzeit).

Ach ja! Der Blick über die Stadt. Und die dramatischen Wolken am Himmel. Das abwechslungsreiche Licht. Und unten das junge Grün. Das Häusermeer hat von hier aus gesehen auch etwas. Und die ziehenden Wolken mit ihren dunkleren und helleren Wölbungen, den festeren und fragileren Konturen, ihrem diffizilen Leuchten - sie fließen langsam nach Osten und verändern sich in Zeitlupe.

Jetzt gehen mir die Gespräche hier rein akustisch und vom Sound her zu nah. Und die Autoschlangen unten – ich weiß von denen nicht viel zu sagen – nur: befremdlich, sehr befremdlich. Außerdem zappelt der Mann am Nebentisch herum und stößt mit seinem Fuß ständig gegen das Topfpflanzenbäumchen zwischen unseren Tischen, sodass dieses ständig wackelt und seine Blätter in meine Aufmerksamkeit wacheln und mich auch irritieren.

Der Horizont wird dunkler und könnte Regen ankündigen. Genaues weiß man nicht. Die Autokolonne ist im Heranfahren von vorne bedrohlicher als von hinten im Wegfahren (No-Na!). Am Horizont lösen sich jetzt die Wolken in eine Art Nebelwand auf – zumindest schaut es von hier so aus. Das Urban-Loritz’sche Zeltdach strahlt in spontan und kurz erscheinendem Sonnenlicht regelrecht auf und setzt zum Abheben an. Zwei Bäume drücken sich an eine dunkle, nördliche Hauswand. Kein Mensch ist illegal. Auch ich nicht. Ich werde unruhig. Ich fühle mich für diesen edlen Ort zu schäbig. Ich sitze schon wie auf Nadeln. (An schäbigen Orten würde ich mich ebenso deplatziert vorkommen, dort weil viel zu … was weiß ich … intellektuell, gebildet, oberschichtig, leichtgewichtig, substanzlos … naja … jedenfalls sehr deplatziert und gefährdet.) Trinkschokolade ist halt auch so ein Bobo-Weicheigetränk! Vielleicht sollte ich doch zum Alkohol zurückkehren. In den Krimis trinken die Kommissare (ich schaue deutsche Krimis) Wiskey und Co. (ja, ich suche immer noch meine Identität!).

Der Himmel wird blauer, die verbleibenden Wolken dünkler. Ich bin zu nervös. Ich werde immer unruhiger. Text ist da. Die Schokolade ausgetrunken. Ich werde gehen. Ach, dieses junge Grün da unten. Ich werde weinerlich; drücke das jedoch tapfer hinunter. Ich gehe jetzt.

Beim Hinabstieg über die große, lange, steile Freitreppe habe ich ein wenig Höhenangst. Aber ich setze mich für ein paar Minuten auf eine Stufe und genieße den Wind, die Weite, den Überblick und die Offenheit; sogar den lauteren Verkehrslärm und die dunkle Regenwolke direkt über mir, die so schön zum gedunkelten, stumpfen Rot der Dachziegel über dem Grau des schmucklosen Hauses dort drüben passt. Ja, ich gehe heim in meine Kemenate. Eine neue, frisch installierte Autokolonne braust auf mich zu, aber kann mich hier heroben nicht erreichen.

Ich erreiche über die Straßen rennend gerade noch die Straßenbahn, weil mir der freundliche Fahrer noch die bereits geschlossene Tür aufgemacht hat. „Danke!“ sage ich laut und betone das mit dem „Chaire!“-Handzeichen und freue mich sehr, dass ich ihn so unauffällig segnen konnte.

Als ich bei der Bellaria umsteige, gerate ich in eine Absence, in eine Deprivationstrance und für einen Augenblick weiß ich nicht, wo ich bin und wie ich gehen muß – links oder rechts. Das geht nicht ohne mittleren Schock ab. Schön daran ist, dass ich mich in solchen Momenten überhaupt nicht frage, wer ich und ob ich richtig bin.




(26.4.2023)

©Peter Alois Rumpf April 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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