2845 Die Stille von Wien
9:35 a.m. Wie kann das sein? Ich wache auf, die Fenster sind
alle offen, und es ist vollkommen still. Ich lebe mitten in der Stadt, heute
ist ein Werktag – wie kann es so still sein? Ich mein: die Stille ist köstlich,
aber geht das mit rechten Dingen zu? Hat es einen Alarm gegeben, den ich nicht
mitbekommen habe, und alle sitzen schon in den Luftschutzkellern? Wurde sonst
wie von oben, vom Großen Dirigenten eine Generalpause angeordnet? Habe ich das
Gehör verloren? Nein, das kann nicht sein! Denn beim Katzenfüttern und am Klo
und auf dem Weg dorthin und in die Küche habe ich all die üblichen Geräusche
gehört. Träume ich? Das wäre dann ein äußerst realistischer und stabiler Traum
und das ist äußerst unwahrscheinlich. So eine Traumdisziplin traue ich mir gar
nicht zu und außerdem – und diese Beobachtung macht es klar: ich bin beim
Pinkeln nicht im nassen Bett aufgewacht. Wurde die Stadt als Ganzes in den
Himmel versetzt? Einfach so? Und von wem? Äußerst unwahrscheinlich! Die Wiener
besingen in ihren Heurigenliedern und besoffen zwar ihr spezielles Verhältnis
zum Herrgott, aber nein! Nein! Nein! Nein! Undenkbar! Die Stadt hat viel zu
viel Schuld auf sich geladen, als dass sie so ungeschoren davonkommen könnte
und gar – hier positiv gemeint – spezialbehandelt wird. Nein, nein, da hätte
vorher noch viel, gar viel energetische Deformation und Dreck bereinigt werden
müssen. Im Gegenteil: ich nehme an, dass es Sodom und Gomorra am Jüngsten Tag
viel, viel besser ergehen wird als Wien, denn die Wiener haben nicht nur wie
die Sodomiten das Heilige Gastrecht mit Füßen getreten, sondern das Volk Jahwes
in ihrer Stadt fast ausgerottet (und wenn der Jahwe möglicherweise nicht der
einzige Gott sein sollte – im Konzil der GöttInnen ein Wörtchen mitzureden beim
Schicksal der Mörder seines Volkes hat er allemal).
Oder haben die Schamanen von Wien die Bevölkerung oder Teile
der Bevölkerung oder nur mich und meine Katze in ein geträumtes Wien versetzt
und vergessen, die Stadtgeräusche mitzuträumen? Oder sie haben sie extra für
mich weggelassen, weil diese Stille meiner wunden und letzen Seele so gut tut?
Das wäre die schönste Variante!
Aber jetzt, jetzt kommt von einer nahen Baustelle das laute
Geräusch von großen, schweren Trümmern, die in die große, metallene Mulde
donnern (fast noch als aufrüttelnd zur Elegie gehörend, als Kontrapunkt; die
Wiederholungen in feierlich großen Abständen). War also einfach bis jetzt
Jausenzeit?
Also gut, in bin in der normalen Alltagswelt und es ist ein
ruhiger Vormittag. Ich lasse meine Augen über die Bücher- und Bilderwand
gleiten und zum ersten Mal erkenne ich in dieser aufgesplissten Stelle in der
Kurve der Hafenstraße von Mali Lošinj die etwas verdrückte Form eines
menschlichen Arsches mit seiner dunklen Spalte. Schon jetzt bekomme ich diese
Wirklichkeitskonstruktion nicht mehr so sauber und eindeutig hin wie im ersten
Blickkontakt, aber lustig ist es trotzdem.
Jetzt wird auf der nahen Baustelle kräftig auf Holz
geklopft. Vielleicht bringt das auch mir Glück beziehungsweise verhindert
gröberen Schaden, beziehungsweise bleibt das einigermaßen erträgliche Schicksal
stabil. Anders gesagt: wird der Saturn eine Ruh geben? Und ein Flugzeuggeräusch
oben am Himmel bestätigt mir: auch dem Uranus ist das recht. Bleibt die Frage:
was sagt der Neptun? Seine Antwort fehlt noch zur Vollständigkeit der heiligen
drei Könige.
Was mir mein Magen knurrend sagt, ist wiederum eindeutig:
ich habe Hunger! Gut, Aufstand! Ich stehe auf.
(11.8.2022)
©Peter Alois Rumpf August 2022
peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite