Donnerstag, 11. August 2022

2845 Die Stille von Wien

 

9:35 a.m. Wie kann das sein? Ich wache auf, die Fenster sind alle offen, und es ist vollkommen still. Ich lebe mitten in der Stadt, heute ist ein Werktag – wie kann es so still sein? Ich mein: die Stille ist köstlich, aber geht das mit rechten Dingen zu? Hat es einen Alarm gegeben, den ich nicht mitbekommen habe, und alle sitzen schon in den Luftschutzkellern? Wurde sonst wie von oben, vom Großen Dirigenten eine Generalpause angeordnet? Habe ich das Gehör verloren? Nein, das kann nicht sein! Denn beim Katzenfüttern und am Klo und auf dem Weg dorthin und in die Küche habe ich all die üblichen Geräusche gehört. Träume ich? Das wäre dann ein äußerst realistischer und stabiler Traum und das ist äußerst unwahrscheinlich. So eine Traumdisziplin traue ich mir gar nicht zu und außerdem – und diese Beobachtung macht es klar: ich bin beim Pinkeln nicht im nassen Bett aufgewacht. Wurde die Stadt als Ganzes in den Himmel versetzt? Einfach so? Und von wem? Äußerst unwahrscheinlich! Die Wiener besingen in ihren Heurigenliedern und besoffen zwar ihr spezielles Verhältnis zum Herrgott, aber nein! Nein! Nein! Nein! Undenkbar! Die Stadt hat viel zu viel Schuld auf sich geladen, als dass sie so ungeschoren davonkommen könnte und gar – hier positiv gemeint – spezialbehandelt wird. Nein, nein, da hätte vorher noch viel, gar viel energetische Deformation und Dreck bereinigt werden müssen. Im Gegenteil: ich nehme an, dass es Sodom und Gomorra am Jüngsten Tag viel, viel besser ergehen wird als Wien, denn die Wiener haben nicht nur wie die Sodomiten das Heilige Gastrecht mit Füßen getreten, sondern das Volk Jahwes in ihrer Stadt fast ausgerottet (und wenn der Jahwe möglicherweise nicht der einzige Gott sein sollte – im Konzil der GöttInnen ein Wörtchen mitzureden beim Schicksal der Mörder seines Volkes hat er allemal).

Oder haben die Schamanen von Wien die Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung oder nur mich und meine Katze in ein geträumtes Wien versetzt und vergessen, die Stadtgeräusche mitzuträumen? Oder sie haben sie extra für mich weggelassen, weil diese Stille meiner wunden und letzen Seele so gut tut? Das wäre die schönste Variante!

Aber jetzt, jetzt kommt von einer nahen Baustelle das laute Geräusch von großen, schweren Trümmern, die in die große, metallene Mulde donnern (fast noch als aufrüttelnd zur Elegie gehörend, als Kontrapunkt; die Wiederholungen in feierlich großen Abständen). War also einfach bis jetzt Jausenzeit?

Also gut, in bin in der normalen Alltagswelt und es ist ein ruhiger Vormittag. Ich lasse meine Augen über die Bücher- und Bilderwand gleiten und zum ersten Mal erkenne ich in dieser aufgesplissten Stelle in der Kurve der Hafenstraße von Mali Lošinj die etwas verdrückte Form eines menschlichen Arsches mit seiner dunklen Spalte. Schon jetzt bekomme ich diese Wirklichkeitskonstruktion nicht mehr so sauber und eindeutig hin wie im ersten Blickkontakt, aber lustig ist es trotzdem.

Jetzt wird auf der nahen Baustelle kräftig auf Holz geklopft. Vielleicht bringt das auch mir Glück beziehungsweise verhindert gröberen Schaden, beziehungsweise bleibt das einigermaßen erträgliche Schicksal stabil. Anders gesagt: wird der Saturn eine Ruh geben? Und ein Flugzeuggeräusch oben am Himmel bestätigt mir: auch dem Uranus ist das recht. Bleibt die Frage: was sagt der Neptun? Seine Antwort fehlt noch zur Vollständigkeit der heiligen drei Könige.

Was mir mein Magen knurrend sagt, ist wiederum eindeutig: ich habe Hunger! Gut, Aufstand! Ich stehe auf.

 

(11.8.2022)

©Peter Alois Rumpf  August 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

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