2763 Das dritte Auge
9:49 a.m. Das war eine gute Idee mit dem offenen Fenster.
Ich höre gerade die Tagis, die soeben angekommen sind, im Stiegenhaus singen.
Meine linke Hand, die das Notizbuch festhält, ist verkrampft - ich spüre es bis
ins Herz leicht ziehen und stechen. Zwischen dem Tageskindergesang höre ich ein
Radio sprechen. Die schreiberische Ratlosigkeit läßt mich im Zimmer suchend
herumschauen und so begegne ich den konzentrischen Blicken der zwei Visionäre.
Die habe ich auch schon lange ignoriert. Das gibt es nicht! Nach Jahren der
Betrachtung fällt mir zum ersten Mal auf, dass der rechte Visionär sein drittes
Auge sichtbar hat. Wo schaue ich die ganze Zeit hin?! Nur in meine Abgründe?
Gut. Immerhin. Und der linke hat eine Stirnpartie wie die Mutter Teresa. Ich
strecke meine linke Hand und lege sie nur mehr flach auf das Notizbuch um es zu
halten.
Die drei Belvederinnen gefallen mir schon sehr! Es ist mir
eine helle Freude, sie anzuschauen. Das Radio aus dem Lichtschacht nervt,
vorallem weil ich es reden höre, jedoch nichts verstehen kann.
Die Kokoschka-Raubkatze schaut im Licht, das sich auf der
glatten Oberfläche der Kunstkarte spiegelt, wie eine Geistererscheinung aus. Das
dritte Auge auf der Stirn des rechten Visionärs ist eines, in das man
hineinsieht, keines, aus dem der Visionär herausschaut. Ich wundere mich noch
immer, dass ich das dritte Auge jahrelang übersehen habe. Jetzt ist das Radio
verstummt, dafür dröhnt ein Elektrogerät ganz dezent (es ist von der
Klanggestalt her eindeutig dröhnen und nicht summen, auch wenn es sehr leise
ist!)
Nach Aufstehen und Frühstücken habe ich den rechten Visionär
mit meiner Brille ganz aus der Nähe inspiziert: er trägt kein drittes Auge.
(23.6.2022)
©Peter Alois Rumpf Juni 2022
peteraloisrumpf@gmail.com
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