Donnerstag, 23. Juni 2022

2763 Das dritte Auge

 

9:49 a.m. Das war eine gute Idee mit dem offenen Fenster. Ich höre gerade die Tagis, die soeben angekommen sind, im Stiegenhaus singen. Meine linke Hand, die das Notizbuch festhält, ist verkrampft - ich spüre es bis ins Herz leicht ziehen und stechen. Zwischen dem Tageskindergesang höre ich ein Radio sprechen. Die schreiberische Ratlosigkeit läßt mich im Zimmer suchend herumschauen und so begegne ich den konzentrischen Blicken der zwei Visionäre. Die habe ich auch schon lange ignoriert. Das gibt es nicht! Nach Jahren der Betrachtung fällt mir zum ersten Mal auf, dass der rechte Visionär sein drittes Auge sichtbar hat. Wo schaue ich die ganze Zeit hin?! Nur in meine Abgründe? Gut. Immerhin. Und der linke hat eine Stirnpartie wie die Mutter Teresa. Ich strecke meine linke Hand und lege sie nur mehr flach auf das Notizbuch um es zu halten.

Die drei Belvederinnen gefallen mir schon sehr! Es ist mir eine helle Freude, sie anzuschauen. Das Radio aus dem Lichtschacht nervt, vorallem weil ich es reden höre, jedoch nichts verstehen kann.

Die Kokoschka-Raubkatze schaut im Licht, das sich auf der glatten Oberfläche der Kunstkarte spiegelt, wie eine Geistererscheinung aus. Das dritte Auge auf der Stirn des rechten Visionärs ist eines, in das man hineinsieht, keines, aus dem der Visionär herausschaut. Ich wundere mich noch immer, dass ich das dritte Auge jahrelang übersehen habe. Jetzt ist das Radio verstummt, dafür dröhnt ein Elektrogerät ganz dezent (es ist von der Klanggestalt her eindeutig dröhnen und nicht summen, auch wenn es sehr leise ist!)

Nach Aufstehen und Frühstücken habe ich den rechten Visionär mit meiner Brille ganz aus der Nähe inspiziert: er trägt kein drittes Auge.

 

(23.6.2022)

©Peter Alois Rumpf  Juni 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

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