Freitag, 24. September 2021

2440 Die Kunst der Fuge

 

Ich pumpe für meine Frau die schwach gewordenen Reifen des Kindertransportwagerls auf, sie hält den Schlauch am Ventil fest, als es zum Angelus läutet (19 Uhr; ohne Sommerzeit 18 Uhr) und mir das Lied „der Engel des Herrn“ einfällt. Ich fange es schon während des Pumpens zu singen an, auch wenn ich den Text nur fragmentarisch erinnere. Ob sich meine Frau wundert, weiß ich nicht. Ich bekomme den Song nicht mehr aus dem Ohr. Ich beschließe, ihn mit der Kunst der Fuge zu verjagen. Kitsch erlaube ich mir nicht!

Es beginnt die Kunst der Fuge. Vom Geruch gekochten Sauerkrauts überdünstet. Frau Katz starrt mich an und maunzt mich an und ich sage zu ihr: „Wenn diese Seite der LP fertig ist, gehe ich mit dir runter und schaue, ob du was zum Fressen brauchst.“

Mein Geist eilt ungerechtfertigt davon. Die Cellos wiegen mich hin und wiegen mich her. Und die Bässe fangen mich auf. Ich brauch gar nicht zuhören. Ich bin auch davon befreit, Bach bewundern zu müssen und auch vom Anspruch, diese anspruchsvolle, konzentrierte und zeitlose Musik „verstehen“ zu müssen. Ich weiß schon: Themen vor, zurück, versetzt, gespiegelt … – das genügt mir. Oder es kommentieren zu müssen. Ich darf Laie sein.

Die Oboen. Ich selber sitze unter dem Thron, unter der Brücke, under the boardwalk, aber im Trockenen und windgeschützt. Herz, mach, was du willst.

Du kannst dich gern dazugesellen. Eine Krabbe klettert auf der Wand. Alt und Tenor, ein wunderschönes Streicherduett. Augenblick v... Goethe! Schleich dich!

Was für Abschlüsse! Die kleinen Kratzer auf der LP bringen mich fast zum Weinen. Aber vor Berührt-Sein. Der Kleiderbügel ohne Kleid schaukelt, als würde der Wind durch sein Kleid wehen.

Der alte Mann steht auf, wankt wie ein alter Mann auf den Plattenspieler zu, stoppt, dreht die Platte um etc. Ich bin im Zentrum der Welt, und weiß, wie die Schöpfung der Erlösung harret. Döbereiner! Schleich du dich auch! Ab!

b.a.c.h. Wer darf schon über seinem gehaltvollen Namen sterben? Um den Plattenspieler strahlt weißliche Aura ab. Den Sterblichen zum Trost der Choral.

 

Ausgerechnet der Vesuvstein glitzert heut. Mein Atem bremst sich etwas ein. Der Auferstehungscatcher kniet wieder dort, und holt zu einem Rundschlag aus. Die meisten Bilder halten sich versteckt, und tarnen sich als abgedreht und blind. Ich will es ihnen gar nicht glauben. Wenn wirklich alles leer ist? Die zwei Visionäre pressen je ihren Mund zu. Die Schweizerin spielt wieder das Vernarrungsspiel mit mir. Zu spät. Ich bekomme den Busen nie zu sehen. Schon längst von Würmern, Erde aufgefressen. Einmal die Katze berühren und alles unter Pelz, selbst meine Schreiberei ist pelzig. Der Berg wird ein Pferd. Der Mond wird ein See. Das Meer wird ein Geist. Die Straße wird ein Herold. Das Seeufer wird eine Autobahn. Die Autobahn wird ein Fluß. Meine Frau wird verlegen. Gott Zeus kniet im Schatten. Wird Hera Aphrodite? Ich komme mit dem Pilotpen nicht mehr durch den Pelz. Die Frau wird länger. Jetzt fängt die Rinnerei wieder an. Aus dem Schnee wird eine Straße. Aus dem Priester wird Lucky Luke. Die zwei Visionäre bekommen längere Gesichter und einen Zaun vor die Nase. Aus dem Maler wird ein Vergewaltiger. Aus der Skulptur ein Aristokrat. Will mir eigentlich wer was sagen? Aus dem Meer wird ein Himmel. Aus dem Strand wird ein Bahnhof. Aus dem Wasser wird ein Quell, aus der Niederung ein Berg. Aus dem Alten wird ein Clown. Aus dem Mighty Quinn wird ein Rohfleischfresser. Beide Schweizerinnen bereiten sich auf die Himmelfahrt vor. Aus einem Busen wurde Holz. Aus dem Richter wird eine Giraffe (nicht zum ersten Mal!). Aus dem Meer wird Schnee. Aus den Liebenden wird ein Ungeheuer. Aus dem Ungeheuer wird ein Kind. Aus dem Kind werden wieder Liebende.

 

(23.9.2021)

 

 ©Peter Alois Rumpf   September 2021   peteraloisrumpf@gmail.com

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