2440 Die Kunst der Fuge
Ich pumpe für meine Frau die schwach gewordenen Reifen des
Kindertransportwagerls auf, sie hält den Schlauch am Ventil fest, als es zum Angelus läutet (19 Uhr; ohne Sommerzeit
18 Uhr) und mir das Lied „der Engel des Herrn“ einfällt. Ich fange es schon
während des Pumpens zu singen an, auch wenn ich den Text nur fragmentarisch
erinnere. Ob sich meine Frau wundert, weiß ich nicht. Ich bekomme den Song
nicht mehr aus dem Ohr. Ich beschließe, ihn mit der Kunst der Fuge zu verjagen.
Kitsch erlaube ich mir nicht!
Es beginnt die Kunst der Fuge. Vom Geruch gekochten
Sauerkrauts überdünstet. Frau Katz starrt mich an und maunzt mich an und ich
sage zu ihr: „Wenn diese Seite der LP fertig ist, gehe ich mit dir runter und
schaue, ob du was zum Fressen brauchst.“
Mein Geist eilt ungerechtfertigt davon. Die Cellos wiegen
mich hin und wiegen mich her. Und die Bässe fangen mich auf. Ich brauch gar
nicht zuhören. Ich bin auch davon befreit, Bach bewundern zu müssen und auch
vom Anspruch, diese anspruchsvolle, konzentrierte und zeitlose Musik
„verstehen“ zu müssen. Ich weiß schon: Themen vor, zurück, versetzt, gespiegelt
… – das genügt mir. Oder es kommentieren zu müssen. Ich darf Laie sein.
Die Oboen. Ich selber sitze unter dem Thron, unter der
Brücke, under the boardwalk, aber im Trockenen und windgeschützt. Herz, mach,
was du willst.
Du kannst dich gern dazugesellen. Eine Krabbe klettert auf der Wand. Alt und Tenor, ein wunderschönes Streicherduett. Augenblick v... Goethe! Schleich dich!
Was für Abschlüsse! Die kleinen Kratzer auf der LP bringen mich
fast zum Weinen. Aber vor Berührt-Sein. Der Kleiderbügel ohne Kleid schaukelt,
als würde der Wind durch sein Kleid wehen.
Der alte Mann steht auf, wankt wie ein alter Mann auf den Plattenspieler zu, stoppt, dreht die Platte um etc. Ich bin im Zentrum der Welt, und weiß, wie die Schöpfung der Erlösung harret. Döbereiner! Schleich du dich auch! Ab!
b.a.c.h. Wer darf schon über seinem gehaltvollen Namen sterben?
Um den Plattenspieler strahlt weißliche Aura ab. Den Sterblichen zum Trost der
Choral.
Ausgerechnet der Vesuvstein glitzert heut. Mein Atem bremst
sich etwas ein. Der Auferstehungscatcher kniet wieder dort, und holt zu einem
Rundschlag aus. Die meisten Bilder halten sich versteckt, und tarnen sich als
abgedreht und blind. Ich will es ihnen gar nicht glauben. Wenn wirklich alles
leer ist? Die zwei Visionäre pressen je ihren Mund zu. Die Schweizerin spielt
wieder das Vernarrungsspiel mit mir. Zu spät. Ich bekomme den Busen nie zu
sehen. Schon längst von Würmern, Erde aufgefressen. Einmal die Katze berühren
und alles unter Pelz, selbst meine Schreiberei ist pelzig. Der Berg wird ein
Pferd. Der Mond wird ein See. Das Meer wird ein Geist. Die Straße wird ein
Herold. Das Seeufer wird eine Autobahn. Die Autobahn wird ein Fluß. Meine Frau
wird verlegen. Gott Zeus kniet im Schatten. Wird Hera Aphrodite? Ich komme mit
dem Pilotpen nicht mehr durch den Pelz. Die Frau wird länger. Jetzt fängt die
Rinnerei wieder an. Aus dem Schnee wird eine Straße. Aus dem Priester wird
Lucky Luke. Die zwei Visionäre bekommen längere Gesichter und einen Zaun vor
die Nase. Aus dem Maler wird ein Vergewaltiger. Aus der Skulptur ein
Aristokrat. Will mir eigentlich wer was sagen? Aus dem Meer wird ein Himmel.
Aus dem Strand wird ein Bahnhof. Aus dem Wasser wird ein Quell, aus der
Niederung ein Berg. Aus dem Alten wird ein Clown. Aus dem Mighty Quinn wird ein
Rohfleischfresser. Beide Schweizerinnen bereiten sich auf die Himmelfahrt vor.
Aus einem Busen wurde Holz. Aus dem Richter wird eine Giraffe (nicht zum ersten
Mal!). Aus dem Meer wird Schnee. Aus den Liebenden wird ein Ungeheuer. Aus dem
Ungeheuer wird ein Kind. Aus dem Kind werden wieder Liebende.
(23.9.2021)
©Peter
Alois Rumpf September 2021 peteraloisrumpf@gmail.com
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