Montag, 26. Juli 2021

2348 Sisyphos rast

 

Ich sitze wieder vorm Sisyphos, in meiner Mischung aus Treue, Engagement, Unflexibelheit, Leidenschaft, Fixiertheit, Interesse, Hochmut, Bescheidenheit, Größenwahn, Demut, Gutgläubigkeit, seherischem Wackelkontakt, Einbildungskraft, Einbildungssucht, Selbstgefälligkeit, Ich-Bezogenheit, Rationalismus, Irrationalismus, Ignoranz, Kritizismus, Leichtgläubigkeit … und heute ist die Luft hier wegen der Klimaanlage etwas zu kühl. Denn draußen ist es sehr heiß und ich bin verschwitzt und direttissima zu „meinem“ Sisyphos – also Besitzgier gehört auch dazu, Vereinnahmung, Mißbrauch, Okkupation … mein Herz krampft leicht – doch schon zwei Kaffees … ist diese Form im gelben Feld am Sisyphos/Stein ein fremdes Schriftzeichen? Ich lande immer beim mene mene tekel upharsin - ich will, dass das Universum zu mir spricht. Die vielen Sisyphoi vom West eine Botschaft? Auf jedem ein, zwei Buchstaben?

Ich bleibe dabei: Sisyphos hat sich an diesem Stein erlöst. Aufregung gibt es, weil Trittspuren am weißen Podest, auf dem die drei West-lichen Arbeiten stehen und das nicht betreten werden darf, entdeckt wurden. Ich war es nicht. Mir genügt der Blick von der Bank aus – soviel Respekt habe ich. Oder soviel Angst vor Sanktionen. Die andere Seite des Sisyphos/Steins würde mich schon interessieren.

Die Löcher im Sisyphos, die mir beim letzten Besuch aufgefallen sind, und die ich heute andächtig betrachten will. Ich möchte den Sisyphos/Stein rollen und dann umarmen. Aber nochmals: ich bin nicht auf das Podest gestiegen. Jetzt kommt die dritte Aufsichtsperson, die die Fußspuren begutachtet. Hat sich wer auf die rote West-Wurst gesetzt? Die Spuren führen zu ihr und mir kommt vor, die Wurst wäre ein klein wenig anders gedreht. Sicher bin ich mir nicht! Der Franz West hätte nichts dagegen – denke ich – wenn sich jemand draufsetzt. Sicher bin ich mir nicht!

Die Löcher. Was ist im Inneren des Sisyphos/Stein? Ich starre auf den Sisyphos/Stein und mein Blick – der vierte Begutachter der Fußspuren am Podest ist da, jemand von der subalternen Leitung, aber Leitung, denn er gibt mit tiefer, sonorer Stimme selbstsicher seine Kommentare und Anweisungen – mein Blick fixiert immer wieder die gelbe, fast quadratische Fläche. Starre ich länger hin, öffnet sich der Plafond über mir an seinen schwarzen Lampen-Installations-Schlitzen und nimmt meine Schädeldecke mit. Die fünfte Begutachterin der dreckigen Fußspuren auf dem weißen Podest. Ich bleibe beim Sisyphos und lasse den Stein schweben. Weil es hier kalt ist, muß ich Lulu und werde dann ein wenig herumgehen, um mich aufzuwärmen.

Araki Nobuyoshi. Bis jetzt hatte ich diese Photoausstellung im Keller ignoriert. Heute bin ich bei meinem Gang aufs Klo doch zur Ausstellung hinüber gegangen und durch die Ausstellung gewandert und komme erschüttert heraus. Ich bin tief berührt und den Tränen nah. Was immer das heißt. Liebe und Tod. Aber nicht der eigene Tod, sondern der der geliebten Frau. Und darnach der geliebten Katze. Ich fühle mich – zumindest im Moment – nicht berufen, mehr dazu zu sagen. Ich gehe zum Sisyphos/Stein zurück.

In meinem rücksichtslosen Drang, mich zur Sisyphos-Andacht hinzusetzen, habe ich drei Frauen unabsichtlich verjagt. Ich habe nur gefragt, ob ich mich auch auf die Bank setzen darf, und als ich mich hingesetzt habe – ganz am Rand und quer, damit ich auf den Sisyphos/Stein blicken kann, mit dem Rücken zu den drei: da waren sie – wusch! weg!

Die Löcher. Ich wähle mir gleich das rechts am gelben Rechteck aus. Ich sehe von hier und aus dieser Entfernung nicht direkt hinein, sondern schräg von der Seite. Sehen kann ich nichts, nur fühlen. Auch für einen direkten Blick wäre ich zu weit weg, um etwas zu erkennen, nicht mehr als ein Loch mit seiner Schwärze. Ich sehe nicht, was darin ist. Nicht, ob es etwas zu sehen gibt. Ich konzentriere mich auf die eine, ausgewählte Öffnung. Ist da der Tod drinnen und wartet, bis es Zeit ist herauszukommen? Ist er darin eingesperrt, sodaß Sisyphos ewig vergeblich kämpfen und schuften muß? Oder ist der Tod durch die Löcher schon entkommen und hat den Sisyphos erlöst? Ich glaube ja, dass der Sisyphos, weil er letztlich seinen Stein und sein Schicksal angenommen und dann lieben gelernt hat, zur Erlösung gekommen ist. Diese Skulptur ist der Beweis, dass irgendwo, irgendwann dem Sisyphos dieser Salto ins Unvorstellbare gelungen ist. Denn auf meinem T-Shirt steht: „ich glaube alles“. Ich bin von der Dichte und Intensität vorhin beim Araki und hier jetzt schon ganz müde und erschöpft. Ich werde ein wenig in der Ausstellung herumgehen. Ich suche leichtere Kost für zwischendurch.

Ich setze mich wieder auf eine Bank und blicke aus zehn Meter Entfernung auf zwei der drei Frauen im Bad aus „Chance“ von Alex Katz. Das ist leichtere Kost – solange ich den Frauen nicht in die Augen schau – und dafür bin ich zu weit weg. Denn wenn ich ihnen in die Augen schaute, sähe ich ihre immense Trauer und ihren immensen Schmerz über die ihnen seit Jahrtausenden vorenthaltenen und verschwiegenen Möglichkeiten, über ihr weggesperrtes Potential, das sie ahnen, aber nicht finden können, weil sie seit Jahrtausenden darauf trainiert werden, es bei den Männern zu suchen und nicht bei den magischen Fähigkeiten ihres Energiezentrums in ihrer Womp, die die Männer nicht haben und weswegen sie den Frauen diese Kraft nicht bieten können.

Bei meinem ungeduldigen Rundgang durch die Essl-Sammlung hier raste ich nur kurz bei Cecily Brown mit einem Hollegha und einigen Katharina Grosses im Rücken – der blöde rot-blaue Goeschl verstellt mir die Sicht – zu ungeduldig für Erholung. Ich renne im Kreis, überprüfe, ob ich die Namen richtig geschrieben habe und nehme die Bilder kaum auf. Ich zwinge mich ein wenig zu bleiben und zu schauen. Kutteln und Zitronen finde ich schon als Titel lustig, Kirschen und Perlen könnten auch Sexitäten verbergen, aber heute habe ich keine Geduld mehr, dem nachzuschauen.

Ich gehe nochmals und schnell zum Sisyphos/Stein, obwohl mich die Unterzuckerung schon massiv attackiert und ich schwanke und mir schummrig wird. Ich reiße mich zusammen, richte mich auf und strecke meinen Rücken, bündle meine Kräfte und blicke als stolzer Mann, der tapfer auf schwankendem Boden steht, sitzt auf die Skulptur. So schaut ein würdiger Abschied aus! Ich stehe sogar auf und trete näher, gehe bis zum Podest vor, vor dem ich ganz zu Recht brav stehen bleibe, und blicke nochmals auf den Sisyphos/Stein. Ich sehe nun an seinem Scheitel kleine „Stücke“ im dumpfen und in hellem, warmen Rot – sie wirken, als wären sie wirklich kleine Material-Einsprengsel in einem Stein-Konglomerat. Aber so schön, diese Skulptur! So schön!

Beim – wieder – Hinsetzen auf die Bank schwanke ich schon, aber ich bleibe noch. (Die Leute fotografieren so oft die falschen Bilder, auch die, die auf mich sympathisch wirken – also doch kein Zusammengehen der Leidenschaften.) Obwohl ich bald etwas essen muß, kann ich mich vom Sisyphos/Stein nicht lösen. Ich starre und starre hin. Bis er wie mein persönlicher Asteroid schweben auf mich zu rast.

 

(26.7.2021)

 

©Peter Alois Rumpf   Juli 2021   peteraloisrumpf@gmail.com

 

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