2345 Die Albertinen
Heute nehme ich den Anlauf zur Erwerbung einer
Seniorenjahreskarte für die Albertinas. Dafür habe ich mich „schön“ gemacht,
meine schwarz-weiße, ziemlich unleserliche Sturm-1909-Uhr, die gar nicht geht,
sondern auf elf Uhr zweiundfünfzigeinhalb steht, umgeschnallt, mein gelbes „Das
ist mein Leib“-Leiberl angelegt, den vierfachen Halsschmuck umgehängt, ebenso
die drei Ringe für meine linke Hand angesteckt (Corona habe ich keine!),
Resthaare in zwei Zöpfchen geflochten, die kurze Hose angezogen weil warm und
wegen meiner schönen Beine, die Füße in schönen afrikanischen Sandalen ohne
Socken, die trotzdem meinen Nagelpilz verbergen, die Bordeaux-rote ärmellose Jacke
für das ganze Zeugs, das ich immer bei mir haben will (Reisepass, Diamanten …),
auch das schöne Albertinatascherl, ein Geschenk meiner tüchtigen, großzügigen
Gattin, von ihr selbst genäht, gerade richtig, dass ich Notizbuch und in
Seitenfächern Schreibzeug unterbringe, das kecke Weinbauernhüterl – ebenso ein
Geschenk meiner Frau - schief aufgesetzt, in der U-Bahn die von mir selbst
bemalte Maske – so aufgebrezelt (hahahahaha) und mit dem John-Frusciante in den
Ohrenstöpseln – als akustische Aufrechterhaltung – so also bin ich zur
Albertina gezogen und habe die Jahreskarte erworben. Außerdem – wie ich jetzt
zu Hause erst feststellen konnte - haben
gestern die Götter der Österreichischen Gesundheitskasse mir in diesem Monat
eine zweite Rückvergütung, die für Mai, überwiesen! Sodaß mein Konto jetzt
nicht überzogen ist!
Bei Manguins Rückenakt unter Bäumen – ich stehe in meiner
Lieblingsecke; Winkerlstehen sozusagen – ist wirklich nur der Rücken mit ein
bisserl Arm, eine Arschbacke mit ein bisserl Oberschenkel – der Rumpf mit
Anhang sozusagen – malerisch ausgearbeitet, alles andere – Kopf, Hände, Unterschenkel, Füße – das beginnt sich schon alles aufzulösen und auf
Farbandeutungen reduziert zu werden. Und das greift auch auf den Garten und die
gesamte Umgebung über. Aber alles bleibt bildhaft erkennbar. Ein wunderbares
Bild! Das nackte Weib liebevoll herausgehoben.
Vuillards Frau im blauen Zimmer: heute wirkt sie auf mich
müde, erschöpft, vielleicht sogar entsetzt. Oder doch kokett? Möglicherweise
eine schlechte Vertuschung des Entsetzens. Am Tisch neben ihr scheint eine
kleine männliche Figur zu stehen, mit Bart (oder ist es der Mund-Nasen-Schutz?),
auch er neigt sein Haupt bedauernd, bereuend ein wenig zur Seite; nicht so
stark wie die junge Frau. Was hat sich hier abgespielt? Am Boden scheint gelbe
Flüssigkeit, die in eine rote überzugehen scheint, zu fließen. Ihre Füße
scheint die Frau im Stehen vom Boden zu heben. Schwebt sie? Eine Himmelfahrt
stelle ich mir anders vor, aber wer weiß. Die Handhaltung verspielt oder
verkrampft? Oder stark konzentriert?
Meine erste Rast wie immer bei der geliebten Werefkin. Das
waren noch Zeiten, als ich in den Nächten herumgezogen bin, auf dass mein Leben
im Dunklen aufleuchte wie die bunten Fenster des Lokals. Links die Bäume in der
klaren, kalten Mondnacht schneebedeckt und gefroren, der HundWolfSchakalKojote
schleicht vorsichtig auf der mondbeleuchteten eisigen Straße, wenn es denn
nicht ein zugefrorener Bach ist. Rechts die stürmische Herbst- oder Winter-
oder Frühfrühlingsnacht, das Lokal der Verlorenen, Einsamen und Verwehten.
Ich drehe mich um zu Jawlenskys bunten Berg bei Oberstdorf –
obwohl ich das Bild recht mag, schaue ich nicht oft hin: die zeitgenössischen
Assoziationen mit Schispringen mit all dem Dazugehörigen: Werbetafeln,
Anzeigetafeln, entartete Sportkleidung, firmenlogosbestickt, verlogene,
schreiende Buntheit, hysterische Kommentatorenstimmen, die Anbetung des
Falschen verderben die Landschaft dort nachhaltig und mir beinahe das Bild
hier. Wenn ich länger hinschaue, fließt der ganze Dreck ab und das Bild kann
sich öffnen und mich berühren. Auf lange Sicht ist Kunst stärker als Fernsehn
und Sport.
Trotz sehenswerter Bilder wandere ich gleich flott weiter zu
meinem Lieblingsrastplatz bei den Boeckls und Kokoschkas. Ich hocke mit
übereinander geschlagenen Beinen und gekrümmt wie ein angestochener Wurm auf
der Bank, aber egal: die zwei Städtebilder erheben mein Herz. Vor allem London
leuchtet als wäre es schon fast zur Gänze in den Himmel versetzt; bei Dresden
bremst noch eine Düsternis die
Himmelfahrt aus, aber sie kündigt sich in der Ferne schon an. In den Ohren löst
John Frusciante blockierende Kräfte auf. Ich blicke noch auf Boeckls weiße,
nackte Frauen und lasse meine Augen sich in Kokoschkas Garten in Vernet-les-Bains
verirren.
Jetzt sitze ich wieder an einem meiner Lieblingsrastplätze
beim verhassten Kardinal, diesen von Amt und Würde aufrechtgepanzerten Bübchen,
also arm, der Kerl, aber völlig fehl in diesem Amt, und gaffe auf mein
Spiegelbild und will mich korrigieren: Bauch: weniger; Rücken: aufrichten;
Brust und Schultern: kompakter, kräftiger, muskulöser; Hüfte: eventuell etwas
schmäler; Beine: super; Füße: Nagelpilz weg. Kopf: etwas zu klein. Gesicht:
wegen Maske schwer erkennbar. Korrektur verschoben nach Corona. Hinter mir im
Spiegel die vertikalen und horizontalen Streifen der Schatten der Streben der
Glasdachkonstruktion, an der selbst wiederum horizontal und vertikal betonten
Palastmauer. Ach, die Klees! Ich versenke mich stehend ein wenig in sein pelziges
Zwergenmärchen. Oder ist es magischer Aura-Magnetismus?
Rast bei meinem lieben Arbeiter von Marie-Louise von
Motesiczky. In seiner Anwesenheit kann ich mich entspannen. Er ist kein Mann, der mich
schlagen und auf mich eintreten will. Beim Beckmann im Hotel zwei Häusln weiter
bin ich mir schon nicht mehr so sicher. Den Chagall lasse ich heute links
liegen; den Picasso sowieso, beidseitig. Sogar den geliebten Giacometti, nur
kurz verweile ich vor seiner Landschaft.
Ich sitze in der Nähe meiner geliebten, bewunderten
Rembrandt-Skizze und schon läuft mir ein Schauder über den Rücken. Ich werde
gleich aufstehen und näher gehen, aber jetzt stehen andere Leute davor. Ein
junges Mädchen hat das kleine, leicht zu übersehende Bildchen wahrgenommen und
es scheint ihr damit ähnlich zu gehen wie mir. Sie hüpft fast vor Freude. Jetzt
stehe ich auf und gehe vor das Bild.
Der Houtkopersburgwal mit Uilenburg und Blick auf die
Zuiderkerk. Man könnte auch sagen: eine Skizze unserer wahrgenommen Welt, mit
Ausblick auf das Unnennbare, über das sie wie eine Skizze geworfen ist (im Ohr
die Andachtsmusik der Omar-Rodriguez-Lopez-Group mit Ximena als Sängerin … wie
passend! Ein Gottesbeweis! Es muß den Großen Regisseur geben! Ha! Gut,
vielleicht tun's drei weibliche Nornen auch!). Das Bild 1647 geschaffen, aber
zeitlos. Dieses Bild besteht zu allen Zeiten und in alle Ewigkeit.
Meine letzte Rast hier (ich werde noch zum Sisyphos in die
moderne Albertina pilgern) im hellen Saal der späteren bunteren Landschaften.
Klees Landschaft zwischen Winter und Frühling ist moderner als so manches
verkrampfte Werk drüben. Wie meisterhaft die Farbflächen und Tupfer über die
große Leere gesetzt sind. Die Große Leere, die so voller Intensität ist, dass
wir Sterbliche sie ohne solche durchlässigen Bilder kaum wahrnehmen können. Ich
warte hier noch ein bisschen, sammle meine Kräfte für meine feierliche
Ein-Mann-Prozession zum Heiligen Sisyphos. Noldes Schnee leuchtet mich über den
Rand meiner auf die Nasenspitze geschobenen Lesebrille an. Bonum et verum et pulchrum
convertuntur. Ich bin bereit.
Ich starte meine Prozession beim Durchgang zwischen den zwei
marmorgebrüstelten Sphinxen, ich richte meinen Rücken in eine aufrechte Haltung
auf (John Frusciante dissolve), ziehe meinen Bauch ein, hebe mein Kinn und damit
meine Nase (lang werde ich diese Haltung nicht durchhalten!). Ich starte.
Es passt super, wenn beim Ausgang aus dem
Ausstellungsbereich beim Eintritt in den Museumsshop - man muß diesen
Weg nehmen – sich die Türen wie von Geisterhand bewegt selbständig öffnen (Es muß
einen Gott geben, der meine Prozession unterstützt, weil er Prozessionen
liebt!). Beim Hinaustreten aus dem Albertina-alt-Gebäude auf die Rampe blicke
ich unwillkürlich auf den gewaltigen Arsch des Pferdes von Feldmarschall Erzherzog
Albrecht von Österreich; ihn selbst sehe ich nicht, weil mir der
festgeschraubte starre Sovara-Wing vom bleichen, schwindlichen Hollein die Sicht
verstellt. Aber nur geht es darum, feierlich die Treppe hinunter zu schreiten
und aufrecht an der Oper vorbei auf die andere Seite des Ringes zu kommen (ich
weiß nicht, wer der Herr des Ringes ist).
Die Prozession stockt, weil ich vorm Eintritt in die
Unterwelt (Opernpassage) auf einem Mäuerchen sitzend raste, um neuen Schwung
aufzunehmen (und schreiben zu können). Die braun befleckte Albertinatreppe bin
ich hinter drei jungen Damen gut hinuntergekommen; meine Aufmerksamkeit … unten
dann ist sie von einem gemütlich parkenden Auto mit hysterischem
Orangelichtgeblinke angezogen worden. Ein warnwestenbewehrter Mann beugt sich
ins offene Autofenster auf einen entspannten Plausch . Nur das wichtigtuerische
Geblinke, das die zwei Tratscher nicht sehen müssen, erzeugt Aufregung für die
Umgebung. So! Ab in die Unterwelt (begleitet von John Frusciante und Omar
Rodriguez-Lopez).
Nur kurz war ich in der Unterwelt - keine drei Tage, keine
drei Stunden, keine drei Minuten – unten war abgesehen von den ewigen
Teilabsperrungen und Ausbesserungsarbeitenbaustellen nicht viel los - dann bin
ich wieder aufgestiegen, an der Badner Bahn vorbei, am Künstlerhauskino und an
Ludwig und Adele (hallo! Grüß euch!) vorbei direkt vor den Sisyphos.
Nun hocke ich – wieder überschlagen und völlig gekrümmt wie
der sprichwörtliche Sünder (homo incurvatus in se ipsum) – und schon reichlich
unterzuckert vorm Sisyphos und schreibe und hab ihn noch kaum angeschaut.
Vielleicht auch dehydriert (hier ist aber Sisyphos, nicht Tantalus!). Die
Fratzen links und rechts ignoriere ich so gut es geht. Ich liebe diese Skulptur
(die Große Regie spielt mir eines meiner Lieblingslieder von John Frusciante
herein: all we have). Ganz links an dieser Spitze sitzt der blaue
Seelenschmerz. Im Zentrum aber ist Wärme und Liebe. Ich bleibe bei meiner
Theorie: Sisyphos hat sein Schicksal akzeptiert und lieben gelernt! Sicher, das
Rot kann auch Blut aus den Wunden sein, das Gelb das Innerste vor Anstrengung
nach außen gekotzt, aber es strahlt. Und das „Blut“ ist so hell und lebendig.
Haben wie hier auch ein „seht wie die Wunden prangen!“? Ich glaube: ja. (Die
Fratzen links und rechts in den Augenwinkel gehen mir gehörig auf die Nerven!)
Sicher, es haben sich Schweiß und Tränen abgelagert. (Mein gekrümmter Rücken
schmerzt.) Und der Stein ist Fleisch geworden und wohnt hier jetzt, hoch
versichert. Wenn ich jedoch lange hinschaue, beginnt der Sisyphos-Stein zu
schweben. Seine Himmelfahrt läßt noch etwas auf sich warten; aber uns zum Trost
und zur Belehrung (Beleerung wäre auch nicht falsch) bleibt er noch da, der
Sisyphos-Stein.
Ich nehme die Musik aus den Ohren und verstaue das Gerät in
der Jackentasche; ich lasse mich nun vom sanften Rauschen der Klimaanlage
betören. Ich probiere die Schatten des Sisyphos; auch die seiner Begleiter: das
langgezogene Ohrwaschl und das rote riesige Hundstrumm. Doch! Doch! Da ist
irgendeine Kraft am Werk und richtet die Schatten aus. Besonders der der roten
Wurst hat Intensität. Ich lenke meinen Blick zurück zum lieben, lieben Heiligen
Sisyphos. Ich würde ihn und seinen Stein gern umarmen. Ave Sisyphos! Morituri
te salutant!
Vor meinem inneren Auge tauchen immer öfter Nudeln mit roter
Sauce auf, die zu Hause auf mich warten. Geduld! Noch ein wenig Geduld. Der
Mensch lebt nicht vom Brot allein. Je länger ich hinschaue, desto plastischer
wird der Sisyphos/Stein; seine Wölbungen werden intensiver, seine Fraben
leuchtender, seine Anwesenheit beeindruckender.
Ich muß jetzt gehen: mein Rücken schmerzt schon
richtig und es strahlt schon aus. Mir fällt auf, dass ich bei all meinen
Besuchen die Löcher im Sisyphos/Stein nicht beachtet habe. Ich ahne, dass sich
da etwas wichtiges verbirgt. Aber ich hebe es für das nächste Mal auf (so Gott
will, oder wer oder was auch immer).
Der Sisyphos/Stein wird so intensiv, dass ich mich nicht von
seinem Anblick lösen kann! Aber ich muß, ich muß! Sonst
verschwinde ich in eines der Löcher und bin hier auf Erden unauffindbar.
(23.7.2021)
©Peter Alois Rumpf Juli 2021
peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite