Freitag, 23. Juli 2021

2345 Die Albertinen

 

Heute nehme ich den Anlauf zur Erwerbung einer Seniorenjahreskarte für die Albertinas. Dafür habe ich mich „schön“ gemacht, meine schwarz-weiße, ziemlich unleserliche Sturm-1909-Uhr, die gar nicht geht, sondern auf elf Uhr zweiundfünfzigeinhalb steht, umgeschnallt, mein gelbes „Das ist mein Leib“-Leiberl angelegt, den vierfachen Halsschmuck umgehängt, ebenso die drei Ringe für meine linke Hand angesteckt (Corona habe ich keine!), Resthaare in zwei Zöpfchen geflochten, die kurze Hose angezogen weil warm und wegen meiner schönen Beine, die Füße in schönen afrikanischen Sandalen ohne Socken, die trotzdem meinen Nagelpilz verbergen, die Bordeaux-rote ärmellose Jacke für das ganze Zeugs, das ich immer bei mir haben will (Reisepass, Diamanten …), auch das schöne Albertinatascherl, ein Geschenk meiner tüchtigen, großzügigen Gattin, von ihr selbst genäht, gerade richtig, dass ich Notizbuch und in Seitenfächern Schreibzeug unterbringe, das kecke Weinbauernhüterl – ebenso ein Geschenk meiner Frau - schief aufgesetzt, in der U-Bahn die von mir selbst bemalte Maske – so aufgebrezelt (hahahahaha) und mit dem John-Frusciante in den Ohrenstöpseln – als akustische Aufrechterhaltung – so also bin ich zur Albertina gezogen und habe die Jahreskarte erworben. Außerdem – wie ich jetzt zu Hause erst feststellen konnte -  haben gestern die Götter der Österreichischen Gesundheitskasse mir in diesem Monat eine zweite Rückvergütung, die für Mai, überwiesen! Sodaß mein Konto jetzt nicht überzogen ist!

Bei Manguins Rückenakt unter Bäumen – ich stehe in meiner Lieblingsecke; Winkerlstehen sozusagen – ist wirklich nur der Rücken mit ein bisserl Arm, eine Arschbacke mit ein bisserl Oberschenkel – der Rumpf mit Anhang sozusagen – malerisch ausgearbeitet, alles andere – Kopf, Hände, Unterschenkel, Füße – das beginnt sich schon alles aufzulösen und auf Farbandeutungen reduziert zu werden. Und das greift auch auf den Garten und die gesamte Umgebung über. Aber alles bleibt bildhaft erkennbar. Ein wunderbares Bild! Das nackte Weib liebevoll herausgehoben.

Vuillards Frau im blauen Zimmer: heute wirkt sie auf mich müde, erschöpft, vielleicht sogar entsetzt. Oder doch kokett? Möglicherweise eine schlechte Vertuschung des Entsetzens. Am Tisch neben ihr scheint eine kleine männliche Figur zu stehen, mit Bart (oder ist es der Mund-Nasen-Schutz?), auch er neigt sein Haupt bedauernd, bereuend ein wenig zur Seite; nicht so stark wie die junge Frau. Was hat sich hier abgespielt? Am Boden scheint gelbe Flüssigkeit, die in eine rote überzugehen scheint, zu fließen. Ihre Füße scheint die Frau im Stehen vom Boden zu heben. Schwebt sie? Eine Himmelfahrt stelle ich mir anders vor, aber wer weiß. Die Handhaltung verspielt oder verkrampft? Oder stark konzentriert?

Meine erste Rast wie immer bei der geliebten Werefkin. Das waren noch Zeiten, als ich in den Nächten herumgezogen bin, auf dass mein Leben im Dunklen aufleuchte wie die bunten Fenster des Lokals. Links die Bäume in der klaren, kalten Mondnacht schneebedeckt und gefroren, der HundWolfSchakalKojote schleicht vorsichtig auf der mondbeleuchteten eisigen Straße, wenn es denn nicht ein zugefrorener Bach ist. Rechts die stürmische Herbst- oder Winter- oder Frühfrühlingsnacht, das Lokal der Verlorenen, Einsamen und Verwehten.

Ich drehe mich um zu Jawlenskys bunten Berg bei Oberstdorf – obwohl ich das Bild recht mag, schaue ich nicht oft hin: die zeitgenössischen Assoziationen mit Schispringen mit all dem Dazugehörigen: Werbetafeln, Anzeigetafeln, entartete Sportkleidung, firmenlogosbestickt, verlogene, schreiende Buntheit, hysterische Kommentatorenstimmen, die Anbetung des Falschen verderben die Landschaft dort nachhaltig und mir beinahe das Bild hier. Wenn ich länger hinschaue, fließt der ganze Dreck ab und das Bild kann sich öffnen und mich berühren. Auf lange Sicht ist Kunst stärker als Fernsehn und Sport.

Trotz sehenswerter Bilder wandere ich gleich flott weiter zu meinem Lieblingsrastplatz bei den Boeckls und Kokoschkas. Ich hocke mit übereinander geschlagenen Beinen und gekrümmt wie ein angestochener Wurm auf der Bank, aber egal: die zwei Städtebilder erheben mein Herz. Vor allem London leuchtet als wäre es schon fast zur Gänze in den Himmel versetzt; bei Dresden bremst noch eine Düsternis  die Himmelfahrt aus, aber sie kündigt sich in der Ferne schon an. In den Ohren löst John Frusciante blockierende Kräfte auf. Ich blicke noch auf Boeckls weiße, nackte Frauen und lasse meine Augen sich in Kokoschkas Garten in Vernet-les-Bains verirren.

Jetzt sitze ich wieder an einem meiner Lieblingsrastplätze beim verhassten Kardinal, diesen von Amt und Würde aufrechtgepanzerten Bübchen, also arm, der Kerl, aber völlig fehl in diesem Amt, und gaffe auf mein Spiegelbild und will mich korrigieren: Bauch: weniger; Rücken: aufrichten; Brust und Schultern: kompakter, kräftiger, muskulöser; Hüfte: eventuell etwas schmäler; Beine: super; Füße: Nagelpilz weg. Kopf: etwas zu klein. Gesicht: wegen Maske schwer erkennbar. Korrektur verschoben nach Corona. Hinter mir im Spiegel die vertikalen und horizontalen Streifen der Schatten der Streben der Glasdachkonstruktion, an der selbst wiederum horizontal und vertikal betonten Palastmauer. Ach, die Klees! Ich versenke mich stehend ein wenig in sein pelziges Zwergenmärchen. Oder ist es magischer Aura-Magnetismus?

Rast bei meinem lieben Arbeiter von Marie-Louise von Motesiczky. In seiner Anwesenheit kann ich mich entspannen. Er ist kein Mann, der mich schlagen und auf mich eintreten will. Beim Beckmann im Hotel zwei Häusln weiter bin ich mir schon nicht mehr so sicher. Den Chagall lasse ich heute links liegen; den Picasso sowieso, beidseitig. Sogar den geliebten Giacometti, nur kurz verweile ich vor seiner Landschaft.

Ich sitze in der Nähe meiner geliebten, bewunderten Rembrandt-Skizze und schon läuft mir ein Schauder über den Rücken. Ich werde gleich aufstehen und näher gehen, aber jetzt stehen andere Leute davor. Ein junges Mädchen hat das kleine, leicht zu übersehende Bildchen wahrgenommen und es scheint ihr damit ähnlich zu gehen wie mir. Sie hüpft fast vor Freude. Jetzt stehe ich auf und gehe vor das Bild.

Der Houtkopersburgwal mit Uilenburg und Blick auf die Zuiderkerk. Man könnte auch sagen: eine Skizze unserer wahrgenommen Welt, mit Ausblick auf das Unnennbare, über das sie wie eine Skizze geworfen ist (im Ohr die Andachtsmusik der Omar-Rodriguez-Lopez-Group mit Ximena als Sängerin … wie passend! Ein Gottesbeweis! Es muß den Großen Regisseur geben! Ha! Gut, vielleicht tun's drei weibliche Nornen auch!). Das Bild 1647 geschaffen, aber zeitlos. Dieses Bild besteht zu allen Zeiten und in alle Ewigkeit.

Meine letzte Rast hier (ich werde noch zum Sisyphos in die moderne Albertina pilgern) im hellen Saal der späteren bunteren Landschaften. Klees Landschaft zwischen Winter und Frühling ist moderner als so manches verkrampfte Werk drüben. Wie meisterhaft die Farbflächen und Tupfer über die große Leere gesetzt sind. Die Große Leere, die so voller Intensität ist, dass wir Sterbliche sie ohne solche durchlässigen Bilder kaum wahrnehmen können. Ich warte hier noch ein bisschen, sammle meine Kräfte für meine feierliche Ein-Mann-Prozession zum Heiligen Sisyphos. Noldes Schnee leuchtet mich über den Rand meiner auf die Nasenspitze geschobenen Lesebrille an. Bonum et verum et pulchrum convertuntur. Ich bin bereit.

Ich starte meine Prozession beim Durchgang zwischen den zwei marmorgebrüstelten Sphinxen, ich richte meinen Rücken in eine aufrechte Haltung auf (John Frusciante dissolve), ziehe meinen Bauch ein, hebe mein Kinn und damit meine Nase (lang werde ich diese Haltung nicht durchhalten!). Ich starte.

Es passt super, wenn beim Ausgang aus dem Ausstellungsbereich beim Eintritt in den Museumsshop - man muß diesen Weg nehmen – sich die Türen wie von Geisterhand bewegt selbständig öffnen (Es muß einen Gott geben, der meine Prozession unterstützt, weil er Prozessionen liebt!). Beim Hinaustreten aus dem Albertina-alt-Gebäude auf die Rampe blicke ich unwillkürlich auf den gewaltigen Arsch des Pferdes von Feldmarschall Erzherzog Albrecht von Österreich; ihn selbst sehe ich nicht, weil mir der festgeschraubte starre Sovara-Wing vom bleichen, schwindlichen Hollein die Sicht verstellt. Aber nur geht es darum, feierlich die Treppe hinunter zu schreiten und aufrecht an der Oper vorbei auf die andere Seite des Ringes zu kommen (ich weiß nicht, wer der Herr des Ringes ist).

Die Prozession stockt, weil ich vorm Eintritt in die Unterwelt (Opernpassage) auf einem Mäuerchen sitzend raste, um neuen Schwung aufzunehmen (und schreiben zu können). Die braun befleckte Albertinatreppe bin ich hinter drei jungen Damen gut hinuntergekommen; meine Aufmerksamkeit … unten dann ist sie von einem gemütlich parkenden Auto mit hysterischem Orangelichtgeblinke angezogen worden. Ein warnwestenbewehrter Mann beugt sich ins offene Autofenster auf einen entspannten Plausch . Nur das wichtigtuerische Geblinke, das die zwei Tratscher nicht sehen müssen, erzeugt Aufregung für die Umgebung. So! Ab in die Unterwelt (begleitet von John Frusciante und Omar Rodriguez-Lopez).

Nur kurz war ich in der Unterwelt - keine drei Tage, keine drei Stunden, keine drei Minuten – unten war abgesehen von den ewigen Teilabsperrungen und Ausbesserungsarbeitenbaustellen nicht viel los - dann bin ich wieder aufgestiegen, an der Badner Bahn vorbei, am Künstlerhauskino und an Ludwig und Adele (hallo! Grüß euch!) vorbei direkt vor den Sisyphos.

Nun hocke ich – wieder überschlagen und völlig gekrümmt wie der sprichwörtliche Sünder (homo incurvatus in se ipsum) – und schon reichlich unterzuckert vorm Sisyphos und schreibe und hab ihn noch kaum angeschaut. Vielleicht auch dehydriert (hier ist aber Sisyphos, nicht Tantalus!). Die Fratzen links und rechts ignoriere ich so gut es geht. Ich liebe diese Skulptur (die Große Regie spielt mir eines meiner Lieblingslieder von John Frusciante herein: all we have). Ganz links an dieser Spitze sitzt der blaue Seelenschmerz. Im Zentrum aber ist Wärme und Liebe. Ich bleibe bei meiner Theorie: Sisyphos hat sein Schicksal akzeptiert und lieben gelernt! Sicher, das Rot kann auch Blut aus den Wunden sein, das Gelb das Innerste vor Anstrengung nach außen gekotzt, aber es strahlt. Und das „Blut“ ist so hell und lebendig. Haben wie hier auch ein „seht wie die Wunden prangen!“? Ich glaube: ja. (Die Fratzen links und rechts in den Augenwinkel gehen mir gehörig auf die Nerven!) Sicher, es haben sich Schweiß und Tränen abgelagert. (Mein gekrümmter Rücken schmerzt.) Und der Stein ist Fleisch geworden und wohnt hier jetzt, hoch versichert. Wenn ich jedoch lange hinschaue, beginnt der Sisyphos-Stein zu schweben. Seine Himmelfahrt läßt noch etwas auf sich warten; aber uns zum Trost und zur Belehrung (Beleerung wäre auch nicht falsch) bleibt er noch da, der Sisyphos-Stein.

Ich nehme die Musik aus den Ohren und verstaue das Gerät in der Jackentasche; ich lasse mich nun vom sanften Rauschen der Klimaanlage betören. Ich probiere die Schatten des Sisyphos; auch die seiner Begleiter: das langgezogene Ohrwaschl und das rote riesige Hundstrumm. Doch! Doch! Da ist irgendeine Kraft am Werk und richtet die Schatten aus. Besonders der der roten Wurst hat Intensität. Ich lenke meinen Blick zurück zum lieben, lieben Heiligen Sisyphos. Ich würde ihn und seinen Stein gern umarmen. Ave Sisyphos! Morituri te salutant!

Vor meinem inneren Auge tauchen immer öfter Nudeln mit roter Sauce auf, die zu Hause auf mich warten. Geduld! Noch ein wenig Geduld. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Je länger ich hinschaue, desto plastischer wird der Sisyphos/Stein; seine Wölbungen werden intensiver, seine Fraben leuchtender, seine Anwesenheit beeindruckender.

Ich muß jetzt gehen: mein Rücken schmerzt schon richtig und es strahlt schon aus. Mir fällt auf, dass ich bei all meinen Besuchen die Löcher im Sisyphos/Stein nicht beachtet habe. Ich ahne, dass sich da etwas wichtiges verbirgt. Aber ich hebe es für das nächste Mal auf (so Gott will, oder wer oder was auch immer).

Der Sisyphos/Stein wird so intensiv, dass ich mich nicht von seinem Anblick lösen kann! Aber ich muß, ich muß! Sonst verschwinde ich in eines der Löcher und bin hier auf Erden unauffindbar.

 

(23.7.2021)

 

©Peter Alois Rumpf   Juli 2021   peteraloisrumpf@gmail.com

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