Samstag, 2. Mai 2020

1822 Im Grünen


Gestern waren wir im Grünen. So wie es viele Lieder, aufmunternde Kommentare und der Optimismus anpreisen. Meiner Frau ist es nämlich gelungen, mich aus meiner depressions-resignierten Selbstquarantäne hinaus zu locken. Es war wunderschön! So wunderschön! Das Grün so intensiv, meine inputreduzierten Sinne waren vor Staunen ganz, ganz offen und haben alles aufgesaugt. Die leichte Brise, die von Zeit zu Zeit Bäume und Büsche wiegt, dieser schöne, sanfte Osthang des Bisamberges mit seinen vielen Wiesen und Weingärten, mit den unglaublichen weiten Blick über die Stadt rechts von der kleinen Baumgruppe und links hinüber bis zu den Bergen der Tatra, und man ahnt die ungarische Tiefebene hinter den Hügeln rechts von Hainburg. Was für ein Ausblick! Die schimmernde Weite wie ein Versprechen. Selbst die vielen Windräder wirken von hier aus poetisch, wie sie gedankenverloren und innerlich abwesend beim Heranschleichen einer Brise ihre Rotoren drehen. Und die Dörfer, die man da und dort vermuten oder deren man eines Kirchturms wegen mancherorts sicher sein kann, von denen ich genau weiß, daß ich in meiner inneren und äußeren Verfassung dort nicht leben könnte, strahlen etwas anziehendes aus und eine große Sehnsucht nach etwas, das ich zu kennen glaube, aber nie erreicht habe, das mir bekannt und unbekannt ist, nimmt von mir Besitz. Ich war glücklich!

Am Weg zurück, schon unten im flachen Teil, den fast ebenen Feldweg entlang, werfe ich einen Blick auf einen kleinen Riedel, einen langgezogenen Hügel, mit Weingärten, aber die Stelle, die mich einnimmt, ist eine Wiese, locker von Bäumen bestanden, von der ich den Blick nicht abwenden kann und will, die mich voll erwischt, sie ruft eine solche schmerzhafte, dennoch schöne Sehnsucht hervor, jetzt im betörenden, abendlichen Sonnenlicht und noch dazu, wo eine Kirchenglocke läutet. Meine Sehnsucht wird ungeheuerlich, als wäre dort in diesem Hain, auf der schönen Leite meine Erfüllung, oder dort oben an der Kuppe des Riedels, oder dort, wo ich von der Kuppe hinsehen könnte, gleich dahinter … . Ich gerate in eine Art Trance, komme in ein Dejavu, als kennte ich das schon, als hätte sich hier vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden mein Leben erfüllt, oder hätte sich ausgerechnet da entschieden, oder weiter hinten, oder noch weiter, jedoch ganz nahe, in den Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, aber immer glaube ich, den entscheidenden Kern, den entscheidenden Punkt, die entscheidende Erkenntnis habe ich gleich, gleich erreicht.

Ganz erfüllt von dieser Schönheit und Intensität und von der Sonne, aber auch müde komme ich nach Hause.

Und in der Nacht dann gerate ich in eine unglaublich schwere Trauer. Es tut so weh! Mein Leben kann ich nur mehr als vertan und verpfuscht ansehen, nichts zustande gebracht, nichts hat Bestand, höchstens ein wenig Überleben; keine Fülle, kein Geschenk an die Welt, keiner Verausgabung, keine Hingabe, alles, was ich hergeben wollte, ins Leere gefallen. Mir kommt alles zu spät vor. Mir kommt vor, ich könne nur noch warten, bis Bruder Hain Erbarmen hat und dem Desaster ein Ende bereitet. So kommt es mir vor. Und das Schlimmste: dass ich trotz dieser Schönheit, trotz dieser Intensität so verzweifelt bin – das kann ich mir kaum verzeihen und ich fühle mich in dieser Welt noch unwürdiger und noch mehr als Versager. Trotzdem werde ich diesem Bruder Hain nicht entgegengehen; das verbietet mir mein letzter Rest an Stolz. Ich werde mein Warten so gut es geht genießen: im Abseits ein bißchen schreiben, essen, Kaffee trinken, viel Schlafen, Musik hören, Krimis schauen, meine Kommentare und Scherze und Wortspiele auf Facebook posten – ob unnötig oder nicht: egal.









(2.5.2020)










©Peter Alois Rumpf,  Mai 2020  peteraloisrumpf@gmail.com

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