1822 Im Grünen
Gestern waren wir im Grünen. So wie es viele Lieder,
aufmunternde Kommentare und der Optimismus anpreisen. Meiner Frau ist es
nämlich gelungen, mich aus meiner depressions-resignierten Selbstquarantäne
hinaus zu locken. Es war wunderschön! So wunderschön! Das Grün so intensiv,
meine inputreduzierten Sinne waren vor Staunen ganz, ganz offen und haben alles
aufgesaugt. Die leichte Brise, die von Zeit zu Zeit Bäume und Büsche wiegt,
dieser schöne, sanfte Osthang des Bisamberges mit seinen vielen Wiesen und
Weingärten, mit den unglaublichen weiten Blick über die Stadt rechts von der
kleinen Baumgruppe und links hinüber bis zu den Bergen der Tatra, und man ahnt
die ungarische Tiefebene hinter den Hügeln rechts von Hainburg. Was für ein
Ausblick! Die schimmernde Weite wie ein Versprechen. Selbst die vielen
Windräder wirken von hier aus poetisch, wie sie gedankenverloren und innerlich
abwesend beim Heranschleichen einer Brise ihre Rotoren drehen. Und die Dörfer,
die man da und dort vermuten oder deren man eines Kirchturms wegen mancherorts
sicher sein kann, von denen ich genau weiß, daß ich in meiner inneren und
äußeren Verfassung dort nicht leben könnte, strahlen etwas anziehendes aus und
eine große Sehnsucht nach etwas, das ich zu kennen glaube, aber nie erreicht
habe, das mir bekannt und unbekannt ist, nimmt von mir Besitz. Ich war
glücklich!
Am Weg zurück, schon unten im flachen Teil, den fast ebenen
Feldweg entlang, werfe ich einen Blick auf einen kleinen Riedel, einen
langgezogenen Hügel, mit Weingärten, aber die Stelle, die mich einnimmt, ist
eine Wiese, locker von Bäumen bestanden, von der ich den Blick nicht abwenden
kann und will, die mich voll erwischt, sie ruft eine solche schmerzhafte,
dennoch schöne Sehnsucht hervor, jetzt im betörenden, abendlichen Sonnenlicht
und noch dazu, wo eine Kirchenglocke läutet. Meine Sehnsucht wird
ungeheuerlich, als wäre dort in diesem Hain, auf der schönen Leite meine
Erfüllung, oder dort oben an der Kuppe des Riedels, oder dort, wo ich von der
Kuppe hinsehen könnte, gleich dahinter … . Ich gerate in eine Art Trance, komme
in ein Dejavu, als kennte ich das schon, als hätte sich hier vor Jahrhunderten
oder gar Jahrtausenden mein Leben erfüllt, oder hätte sich ausgerechnet da
entschieden, oder weiter hinten, oder noch weiter, jedoch ganz nahe, in den
Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, aber immer glaube ich, den
entscheidenden Kern, den entscheidenden Punkt, die entscheidende Erkenntnis
habe ich gleich, gleich erreicht.
Ganz erfüllt von dieser Schönheit und Intensität und von der
Sonne, aber auch müde komme ich nach Hause.
Und in der Nacht dann gerate ich in eine unglaublich schwere
Trauer. Es tut so weh! Mein Leben kann ich nur mehr als vertan und verpfuscht
ansehen, nichts zustande gebracht, nichts hat Bestand, höchstens ein wenig
Überleben; keine Fülle, kein Geschenk an die Welt, keiner Verausgabung, keine
Hingabe, alles, was ich hergeben wollte, ins Leere gefallen. Mir kommt alles zu
spät vor. Mir kommt vor, ich könne nur noch warten, bis Bruder Hain Erbarmen
hat und dem Desaster ein Ende bereitet. So kommt es mir vor. Und das
Schlimmste: dass ich trotz dieser Schönheit, trotz dieser Intensität so
verzweifelt bin – das kann ich mir kaum verzeihen und ich fühle mich in dieser
Welt noch unwürdiger und noch mehr als Versager. Trotzdem werde ich diesem
Bruder Hain nicht entgegengehen; das verbietet mir mein letzter Rest an Stolz.
Ich werde mein Warten so gut es geht genießen: im Abseits ein bißchen
schreiben, essen, Kaffee trinken, viel Schlafen, Musik hören, Krimis schauen,
meine Kommentare und Scherze und Wortspiele auf Facebook posten – ob unnötig
oder nicht: egal.
(2.5.2020)
©Peter Alois Rumpf, Mai 2020 peteraloisrumpf@gmail.com
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