Montag, 25. November 2019

1612 Ordine Nuovo


Heute, Jesus von Nazareth, bist du geboren. Ich freue mich beziehungsweise – ehrlich gesagt: versuche ich es, denn eigentlich bin ich verärgert, weil mich die neue Ordnung (ordine nuovo: italienische, neofaschistische Terrororganisation), die ich mir auferlegt habe – beginnend mit dem heutigen Tag – unglaublich nervt.

Erstens bin ich eine halbe Stunde zu früh hinunter in die Küche; um diese Zeit vertrage ich kein Radiogedudel und keine geschäftige, kommunikationsbesessene Ehefrau. Morgen also eine halbe Stunde später.

Zweitens: der Sinn meiner Selbstverordnung erschließt sich mir momentan überhaupt nicht mehr: wieso soll ich mir den Vormittag zurückerobern, wenn ich kein Geld mehr fürs Kaffeehaus habe? Das ist das einzig Anziehende an der Vormittag-Vorstellung: ein ruhiger, meditativer – darf auch schwermütig sein – Vormittag beim Lesen und Schreiben in einem Kaffeehaus. Alles andere am Vormittag macht mich nur aggressiv: das Im-Frühtau-zu-Berge, die Tüchtigen, die die Welt ruinieren und mit ihren aufgedrehten Bewußtseins – möchte nicht wissen, wie viel davon kokainisiert ist! - die Atmosphäre verseuchen. Und jetzt düddelt noch der Kaffeeautomat, weil ich mich halt dem Reinigungsprogramm des Gerätes, das es die ganze Zeit schon blinkend eingefordert hat, ausgeliefert habe. Was mich sowieso schon nervt. Mein Gott! Wohin mit mir? Wo finde ich meinen Frieden? Oder wenigstens mein Gleichgewicht? Ich will wieder meine Träume und den Vormittagsschlaf zurück!

Ich habe es höchstens eine halbe Minute geschafft, der Piepserei zu widerstehen und weiter zu schreiben, dann habe ich doch unterbrochen und das vom Automaten Verlangte ausgeführt.

Auch die Katze nervt mich besonders; offensichtlich glaubt sie, daß ich – da ich in der Küche sitze – sie alle fünf Minuten füttern soll.


Ich habe den Standort gewechselt und sitze oben im Atelier und blicke durchs Fenster ins Graue hinaus. Der Rotz rinnt mir und das Kreuz schmerzt wie schon seit Monaten nicht mehr. Ich habe mir mein letztes Wärmepflaster angelegt.

Nein, das alles da, das ist nicht meine Welt! Welcher Idiot hat mich hier ausgeworfen? Angeblich entscheidet man sich selbst dafür, hier in diese Welt zu kommen. Das möchte ich sehen, wie und wem gegenüber ich meine Einverständniserklärung abgegeben habe, und ob falsche Versprechungen im Spiel waren! Aber was soll's!

Ich starre betont starr ins kahle Geäst der Essigbäume. Die Spitzen, die sich in den grauen, gleichgültigen Himmel kratzen, haben es mir angetan. Wie Antennen. Gierig nach Botschaften und Wellen ausgerichtet wollen sie jedes Fünklein aufnehmen (ich funke, du funkst, er/sie/es funkt …).
Der majestätische Flug zweier Krähen beruhigt mich augenblicklich. Der flotte, schnelle zweier weiterer macht mich zuversichtlicher.

Langsam spüre ich die Wärme im Kreuz. Das Rotzen hat aufgehört. Die Weide winkt mit ihren Spitzenzweigen zärtlich her. Jetzt kommt doch ein wenig vom erhofften Vormittagsgefühl auf.

Ein bißchen höher möchte ich hinaus; so, daß ich über die Dächer blicken kann.

Die dänischen Hexen der Mittelmäßigkeit fallen mir ein. Hoffentlich gehe ich ihnen jetzt nicht erst recht auf den Leim! (Würde ich das ordentlich erzählen und erklären, wäre das überhaupt nicht mysteriös).

Ach, du schönes Gewirr von nackten Zweigen da draußen! Wie schwerfällig bin ich im Vergleich.

Übrigens: Die Erzählung über die Opferung Isaaks im sogenannten alten Testament ist einer der fortschrittlichsten und aufklärerischten Texte im AT, die ich kenne (und ich kenne nicht viele). Denn damals war es üblich und galt als gottesfürchtig, den erstgeborenen Sohn zu töten. Jede Familie mußte ihren Erstgeborenen in den Feuerofen des Gottes Moloch werfen. Der Text will diese Praxis abstellen, und um die Väter in ihrem bisherigen Tun nicht vor den Kopf zu stoßen, suggeriert der Text, daß Gott mit den Opfern bisher sehr zufrieden war, und gesehen hat, wie gehorsam die Menschen sind, aber daß er von nun an dieses Opfer nicht mehr braucht und nicht mehr will. Der Text baut den Eltern eine Brücke, ohne gröberen Gesichtsverlust von ihrer Praxis abzurücken, was sehr schlau ist und unabdingbar, wenn man die Erstgeborenen wirklich retten will, denn konfrontativ vorzugehen hätte genau das Gegenteil bewirkt. Das nur nebenbei.

Im Übrigen teile ich die Auffassung des Münchner Affenarsches (W.D.), daß die alten Mythen auch heute noch in zivilisatorischer Verkleidung weiterwirken.










(25.11.2019)










©Peter Alois Rumpf,  November 2019  peteraloisrumpf@gmail.com


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