819 Mir geht es genauso wie Henischs Vater
Vor kurzem habe ich in einem Buch eine Stelle gelesen, wo
ein Sohn seinen Vater als sentimental bezeichnet und als Beispiel anführt, daß der
Vater beim Betrachten eines Films – zu einer Zeit, als man Jesus Christus im
Film noch nicht aus der Nähe zeigen konnte oder wollte – an einer Passage, bei
der man Jesus am Horizont - also in der Ferne - vorübergehen sah, geweint hat.
(Peter Henisch; Die kleine Figur meines Vaters; – übrigens und nebenbei: auch
seine Geschichte ist ein Beleg für die Richtigkeit W. Döbereiners
„Peter-Theorie“: Peter heißen die Söhne, wenn die Mutter eigentlich einen
anderen heiraten wollte und ihr Sohn Peter sie als Stellvertreter an den
eigentlichen Geliebten erinnern soll und sie ihn damit von vornherein gegen den
Vater stellt.)
Mir geht es aber genauso wie Henischs Vater. Mir steigen
schon die Tränen in die Augen, wenn ich diese Geschichte vom Film lese. Auch
ich hege mir gegenüber den Verdacht, daß ich sentimental bin, denn gerade bei
Filmen, oder auch bei Musik, aber überhaupt bin ich ganz nah am Wasser gebaut.
Wenn ich in einer Messe sitze – was ich seit Jahren nicht mehr mache – muß ich
mich immer sehr zusammenreißen, daß ich beim „Herr, erbarme dich unser“ oder
beim „Oh Herr, ich bin nicht würdig ... aber sprich nur ein Wort, so wird meine
Seele gesund“ nicht losheule. Oder früher, als die Kinder noch klein waren, und ich
ihnen zu Weihnachten die Geschichte vom Mooswaberl aus Peter ((!) - auch bei ihm dasselbe Peterszenario) Roseggers Kindheitserzählungen vorgelesen habe, da
haben sie schon immer gelacht, wenn ich an die Stelle gekommen bin, an der ich
immer so heftig weinen mußte, daß ich nicht weiterlesen konnte.
Und das wird immer stärker.
Was ist Sentimentalität? Jedenfalls war ich in den
Siebzigerjahren sehr damit beschäftigt, in mir diese Sentimentalität
niederzuringen – aber vom Intellekt her. Ich habe sie mir verboten.
Sentimentalität, das wären die falschen und unechten Gefühle, vergleichbar mit
dem Kitsch, der Unechtes zu behübschen versucht und nicht merkt, wie häßlich er
dabei ist.
Aber ist alles, was vom Intellekt her als sentimental
bezeichnet wird, wirklich immer sentimental? Indem wir uns intellektuell zu
„neutralisieren“ versuchen, denunzieren wir da vor unserem strengen inneren
Gerichtshof nicht auch unsere echten Gefühle und zerstören sie? Und landen wir
damit nicht erst recht in der Lebenslüge und werden damit erst recht anfällig
für die falschen Gefühle, weil wir unsere echten abgeschnitten haben? Und
stecken in den falschen Gefühlen – so verdreht und verlogen sie sein mögen –
nicht irgendwo ganz tief unten die echten? Und sollten die nicht besser aus
ihrer Verdrehtheit erlöst, denn abgeschnitten werden?
Ich weiß nicht, um welchen Film es sich in Peter Henischs
Erzählung handelt – ganz vage und ganz hinten im Hinterkopf könnte eine
Erinnerung sein, daß ich den auch gesehen habe – aber wie auch immer: diese
Tränen des Walter Henisch verstehe ich gut und ich kann sie nachfühlen: da geht
er, dem es gelungen ist, sein physisches und sein – wie nenne ich das? -
transzendentales Wesen zu vereinen, die Ganzheit des Selbst zu leben. Er kann
es einem zeigen, wie es geht und uns dadurch helfen, uns aus Lebenslüge und Elend
zu befreien. Das ist die Chance meines Lebens! Ich bräuchte ihm nur nachgehen,
aber was mache ich? Ich bin berührt, aber lasse ihn vorübergehen. Ich bleibe
auf Distanz. (für Tolteken: da ist mein Kubikzentimeter Möglichkeit, die
Chance, mich mit dem Nagual zu verbinden und die andere Wirklichkeit zu
erreichen, aber ich ergreife diese Möglichkeit nicht.) (Zur Erklärung: ich
spiritualisiere zweisprachig!) Nein, das sind nicht einfach falsche Tränen!
Diese Tränen sind auch echt! (Ja, ich weiß schon!: „Hüte dich vor denen,
die bei ihren Einsichten weinen, denn die haben nichts begriffen!“ aus C.
Castaneda. Dennoch: an dieser Stelle wäre ein Neustart möglich.)
Oder einfach so! Da geht einer vorbei, der seine Ganzheit
lebt, und das kann ich spüren und das erschüttert mich, weil meine tiefste,
wahrhaftigste Sehnsucht angesprochen wird, die nach der Verbindung mit der
Unendlichkeit. Auch wenn mit dem Weinen noch kein Schritt in diese Richtung
getan wurde, so kann es zutreffen, daß man dabei mit seinem tiefsten Schichten
der Seele in Verbindung kommt.
Also anders gesagt: ich finde nichts mehr dabei, wenn ich
bei einer solchen Filmszene weine, oder bei der Mooswaberlgeschichte oder bei
einem Gottesdienst oder bei Musik oder bei was auch immer. (Gilt das auch für
„Ich hatt' einen Kameraden ...“, wo ich auch bei meinem Vater Tränen in
den Augen gesehen habe? Hm?!? Im Kameradschaftsbundkontext? Hm?!?)
Es ist, was es ist, nicht mehr und nicht weniger. Und wenn
es falsche Gefühle waren, dann kann sich das ja eh auch noch später
herausstellen.
(16./17.11.2017)
©Peter Alois Rumpf November 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
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