775 Deine Hoffnungen haben sich nicht erfüllt
Während ich einen Traum aufzuschreiben versuche und dabei
mit dem ständig wachsenden Vergessen um die Erinnerung kämpfe, während ich also,
was ich noch weiß, hinschreibe, rutsche ich für einen Moment in die
Volksschulzeit zurück, in die Zeit, als ich das Lesen und Schreiben lernte.
Nicht in Form einer Erinnerung an ein besonderes Ereignis, sondern an ein
Gefühl. Ich sitze da und schaue auf die Schrift und die Schrift eröffnet sich
mir langsam. Das Sitzen und Schauen ist zum Teil auch Gegenwart, das
Sich-Öffnen, das anfangende Verstehen und die Empfindungen des Staunens dabei
sind Erinnerung. Irgendein Moment, wo ich etwas verstanden habe, oder ein
Konglomerat aus mehreren solchen Momenten. Ich sehe keine Lehrer oder
Mitschüler, nur mich und die Schrift, die sich mir mehr und mehr erschließt.
Der Moment hat etwas Erhabenes, wie das Erleben eines kleinen Wunders. Direkt
Angst ist nicht dabei; die lauert bloß am Rand.
Ich bin erstaunt, mit welch starken, heftigen Gefühlen diese
Erinnerung – oder was es auch ist – verbunden ist, so, daß mir beinahe die
Tränen kommen. Also spielt doch die Angst – vor der Schule, vorm Versagen, vor
den Lehrern, vor den Mitschülern oder was auch immer – eine zentrale Rolle?
Einsamkeit kann ich herausspüren, absolutes
Alleingelassen-Werden. Aber dennoch: der entscheidende Kern der Erinnerung ist,
daß sich im Moment etwas öffnet, daß ich die Schrift verstehen lerne und was
man damit machen kann, so, als böte sich da meiner gequälten und verzweifelten
Kinderseele ein Ausweg, möglicherweise ein Fluchtweg, der mit Lesen und
Schreiben zu tun hat. Und Lesen, Denken und Schreiben eröffnen einem ja
wirklich neue Welten und helfen, seinen Horizont zu erweitern und die erlernten
Beschränktheiten zu überschreiten. Und: die Liebe zum Wissen ist ein Wert in sich.
Ich kann jetzt auch noch spekulieren damit, daß da
möglicherweise eine unbestimmte Ahnung aufgetaucht ist, daß mein
Tätigkeitsfeld, meine Erfüllung nicht im dualen Leben des Hauens und Stechens,
der großen Taten und der großen Siege, der Produktion von handfesten
materiellen Dingen und finanziellen Erfolgen zu suchen sein wird, sondern im
Bereich von Sprache und Denken, von Reflexion und im Abstrakten liegen würde.
Und noch etwas: Optimismus ist da. Daß es einmal besser
wird, daß alles besser wird. (Ich habe ja noch viele Illusionen und das ganze
Leben vor mir und schaue mit so einer Art frommen Gläubigkeit in die Zukunft,
mit für dieses Alter erstaunlich starkem religiösen Glauben und mit einer
zeittypischen Fortschrittsgläubigkeit.)
Vielleicht kommt der Schmerz gar nicht aus der
Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart. Zwar mag ich noch ein paar wenige
Illusionen und Hoffnungen haben, aber da ganze Leben habe ich nicht vor mir.
Vielleicht schmerzt es mich, dieses trotz allem hoffnungsvolle Kind zu sehen
und ihm mitteilen zu müssen: deine Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.
(28.9.2017)
©Peter
Alois Rumpf September 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite