Donnerstag, 28. September 2017

775 Deine Hoffnungen haben sich nicht erfüllt

Während ich einen Traum aufzuschreiben versuche und dabei mit dem ständig wachsenden Vergessen um die Erinnerung kämpfe, während ich also, was ich noch weiß, hinschreibe, rutsche ich für einen Moment in die Volksschulzeit zurück, in die Zeit, als ich das Lesen und Schreiben lernte. Nicht in Form einer Erinnerung an ein besonderes Ereignis, sondern an ein Gefühl. Ich sitze da und schaue auf die Schrift und die Schrift eröffnet sich mir langsam. Das Sitzen und Schauen ist zum Teil auch Gegenwart, das Sich-Öffnen, das anfangende Verstehen und die Empfindungen des Staunens dabei sind Erinnerung. Irgendein Moment, wo ich etwas verstanden habe, oder ein Konglomerat aus mehreren solchen Momenten. Ich sehe keine Lehrer oder Mitschüler, nur mich und die Schrift, die sich mir mehr und mehr erschließt. Der Moment hat etwas Erhabenes, wie das Erleben eines kleinen Wunders. Direkt Angst ist nicht dabei; die lauert bloß am Rand.

Ich bin erstaunt, mit welch starken, heftigen Gefühlen diese Erinnerung – oder was es auch ist – verbunden ist, so, daß mir beinahe die Tränen kommen. Also spielt doch die Angst – vor der Schule, vorm Versagen, vor den Lehrern, vor den Mitschülern oder was auch immer – eine zentrale Rolle?
Einsamkeit kann ich herausspüren, absolutes Alleingelassen-Werden. Aber dennoch: der entscheidende Kern der Erinnerung ist, daß sich im Moment etwas öffnet, daß ich die Schrift verstehen lerne und was man damit machen kann, so, als böte sich da meiner gequälten und verzweifelten Kinderseele ein Ausweg, möglicherweise ein Fluchtweg, der mit Lesen und Schreiben zu tun hat. Und Lesen, Denken und Schreiben eröffnen einem ja wirklich neue Welten und helfen, seinen Horizont zu erweitern und die erlernten Beschränktheiten zu überschreiten. Und: die Liebe zum Wissen ist ein Wert in sich.

Ich kann jetzt auch noch spekulieren damit, daß da möglicherweise eine unbestimmte Ahnung aufgetaucht ist, daß mein Tätigkeitsfeld, meine Erfüllung nicht im dualen Leben des Hauens und Stechens, der großen Taten und der großen Siege, der Produktion von handfesten materiellen Dingen und finanziellen Erfolgen zu suchen sein wird, sondern im Bereich von Sprache und Denken, von Reflexion und im Abstrakten liegen würde.

Und noch etwas: Optimismus ist da. Daß es einmal besser wird, daß alles besser wird. (Ich habe ja noch viele Illusionen und das ganze Leben vor mir und schaue mit so einer Art frommen Gläubigkeit in die Zukunft, mit für dieses Alter erstaunlich starkem religiösen Glauben und mit einer zeittypischen Fortschrittsgläubigkeit.)

Vielleicht kommt der Schmerz gar nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart. Zwar mag ich noch ein paar wenige Illusionen und Hoffnungen haben, aber da ganze Leben habe ich nicht vor mir. Vielleicht schmerzt es mich, dieses trotz allem hoffnungsvolle Kind zu sehen und ihm mitteilen zu müssen: deine Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.







(28.9.2017)










©Peter Alois Rumpf    September 2017     peteraloisrumpf@gmail.com


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