Mittwoch, 26. Juli 2017

721 Der Zeckenbiß

Vor einer Woche bin ich mit Fieber darniedergelegen und heute schlage ich mich immer noch mit Husten, Schnupfen und manchmal leichten Nackenschmerzen herum. (Nichts Schlimmes, nur ein wenig lästig.) Aber deswegen ist mir eine Episode eingefallen, die sich in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre abgespielt hat.

Ich versuchte damals, mein abgebrochenes Theologiestudium zu Ende zu bringen – Auslöser dafür war der Astrologe Wolfgang Döbereiner – meine Zeichnerei und Malerei hatte ich aufgegeben – der gleiche Auslöser wie oben. Ich war vorher nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris – für diese Zeit ein noch staatlich finanzierter Künstler – zurückgekehrt und war dann bald aus allen sozialen Netzen gefallen. Ich hatte keinen Job in einem ordentlichen Anstellungsverhältnis, deshalb keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe. Ich hielt mich mit Taglöhnerjobs ohne Versicherung über Wasser. Gerade noch. Ich hatte mir eine kleine heruntergekommene Wohnung – die ich früher mit meiner damaligen Freundin als Lager und Abstellkammer unseres Ateliers genutzt hatte – das Atelier hatten wir inzwischen schon längst aufgegeben, aber das Lager, weil es so billig war, war mir noch geblieben - ich lagerte dort noch Material für Bilder, Skulpturen, Papierstapel, Werkzeuge und meine Bildwerke – diese schäbige Wohnung also – übrigens die einzige Wohnung meines Lebens, wo der Mietvertrag auf meinen Namen lief – hatte ich mir so gut es ging zum Wohnen hergerichtet. Direkt nach meiner Rückkehr aus Paris hatte ich mehrere Monate in der Druckerei eines guten Menschen gratis wohnen dürfen. Das war kein Druckereibetrieb, sondern die Druckwerkstätte eines Künstlers, der sie aber in dieser Zeit aus Rücksicht mir gegenüber nur selten benutzte, trotzdem auf Dauer ein unhaltbarer Zustand.

Meine Abstellkammer, die ich mir herzurichten versuchte, hatte höchstens sechszehn Quadratmeter, lag im nicht unterkellerten Teil des Erdgeschosses und bestand aus einem Küchenraum (würde ich Küche schreiben, würden falsche Assoziationen entstehen), der mit einer einfachen Holzwand mit Glastür, Fenster und Oberlichte aufs Stiegenhaus ging und wo man trotz verhängte Fenster praktisch in der Auslage saß, zumindest in der akkustischen. Der zweite Raum war kleiner, ein schmaler Schlurf mit einem Fenster zur Straße, direkt zum Gehsteig, sodaß ich auch da das Fenster verhängen mußte. Dieser Raum war vor dem Krieg das Geschäftslokal eines Fetzentandlers und in der frühen Nachkriegszeit hatte man die einzige Öffnung dieses Raumes, nämlich die Tür, zu eben diesem einen Fenster vermauert. Vermutlich mit sehr einfachen Mitteln und nicht sehr sorgfältig und professionell, denn von dieser Außenwand her drang Feuchtigkeit ein und hatte den direkt auf der Erde aufliegenden Bretterboden bis zirka ein Drittel fast komplett aufgelöst. Wir hatten dann – in der Abstellkammerzeit – einfach eine Preßspanplatte darübergenagelt.

Damit es keine Mißverständnisse gibt: ich war sehr froh, daß ich diese Wohnung hatte, denn sonst wäre ich obdachlos gewesen und ich habe sie halt mit äußerst bescheidenen Mitteln hergerichtet. Alte Bretter für Regale, neues Holz habe ich mir für das Hochbett gekauft, zwei alte Spanplattenschreibtische hatte ich von einem Freund geschenkt bekommen; einen stellte ich in die Küche als Eßtisch und „Anrichte“ und als Ablage für das Geschirrtrocknungsgestell, den anderen in die Kammer als wirklichen Schreibtisch. In einer Ecke der „Küche“ baute ich mir aus alten Brettern ganz primitiv so eine Art Ablage für den Kocher. In vielen Schachteln bewahrte ich meine Kleidung auf, auch die Dokumente, Werkzeuge und so weiter. Einen alten Kasten, den junge Leute aus einer anderen Wohnung des Hauses teilweise schon zerschlagen hatten, weil sie ihn wegwerfen wollten, konnte ich gerade noch abfangen und irgendwie zusammennageln und in die Kammer stellen. Vorher sind dort alle meine Bilder gestanden. Aber die hatte ich alle zerrissen und zerschnitten und weggeworfen, auch die Zeichnungen, die nicht viel Platz beanspruchten, aber eben nicht, weil ich mir in den äußerst beengten Verhältnissen Platz verschaffen wollte, sondern weil ich meine Arbeiten inzwischen für Dreck hielt – dies geht übrigens auch auf den Astrologen Wolfgang Döbereiner  zurück. Aber gut, jetzt war halt Platz für einen Kasten.

In dieser Wohnung gab es kein Wasser – das mußte ich mir von der Bassena am Gang holen. Deswegen gab es auch kein Bad und keine Toilette in der Wohnung, überhaupt keinen Wasserabfluß; ich mußte das Abwasser wieder im Kübel in den Hof tragen und in den Gulli leeren. Nebenbei gesagt, das Wasser rein und raus zu tragen, das hat mir durchaus gefallen; man geht dann mir diesem lebensspendenden Element viel ehrfürchtiger um. Waschen mußte ich mich über dem Lavoir; die Wäsche mußte ich in einen nicht allzu nahen, heruntergekommenen und von Drogensüchtigen fast „bewohnten“ Waschsalon schleppen. Die Stromleitungen waren so alt und schwach, daß ich keine elektrische Kochplatte anschließen konnte. So kochte ich auf einem alten, primitiven Campinggaskocher – nur mit einer Flamme. Sehr fragil das Ganze – sodaß ich sehr aufpassen mußte, daß Topf oder Pfanne nicht herunterrutschten, wenn ich durch die Küche ging oder einen Sessel verrückte und deswegen der Bretterboden vibrierte.
Einen Kühlschrank hätte das Stromsystem auch nicht verkraftet, wie die meisten üblichen elektrischen Geräte nicht.

Ich hatte mir, weil sonst kein Ofen in der Wohnung vorhanden war, einen Herd – mit Holz zu befeuern – gekauft, auf dem ich im Winter kochen konnte, wenn, ja wenn ich mir das Einheizen leisten konnte. Das ging durchschnittlich so ein, zweimal die Woche; ich hatte tagelang nur zwölf Grad in der Wohnung, und wenn es draußen sehr kalt war, konnte die Temperatur auf acht Grad absinken. Das war aber schon sehr schwer auszuhalten, weil man sich dann auch im Bett, mehrfach zugedeckt, nicht mehr erwärmt.

Einmal habe ich mich an die Caritas gewandt, die mir dann einmalig – es wurde erklärt, daß dies nur einmal im Jahr möglich sei – einen Sack Holz geschenkt und angeliefert hat. Das Holz – sowohl das gekaufte wie das geschenkte – ließ ich mir in die Küche leeren, wo ich es dann an der Wand aufschichtete. Durchaus romantisch, aber sehr staubig; aber das war in dieser Wohnung auch schon egal, denn unter der oben erwähnten Preßspanplatte in der Kammer staubte ja auch der nackte Erdboden hervor.

Meine sozialen Kontakte hatte ich sehr reduziert, Freundschaften aufgegeben oder vernachlässigt - auch das eine Auswirkung der Begegnung mit dem Astrologen Wolfgang Döbereiner – sodaß ich sehr zurückgezogen lebte. Wenn es nicht ein paar Freunde gegeben hätte, die trotz meiner Widerstände und meinem döbranitischen Dogmatismus den Kontakt nicht abgebrochen haben, wer weiß, wo ich gelandet wäre.

Ich erinnere mich nicht mehr in welchem Jahr genau das war, aber ich weiß noch, daß es im Herbst war, da wurde ich krank und hatte ungewöhnlich hohes Fieber, über die Vierzig-Grad-Marke. Normalerweise neige ich nicht zu hohem Fieber, im Gegenteil, ich fange bei 38.5 schon zu phantasieren an. Deswegen machte ich mir große Sorgen, denn im Sommer vorher hatte mich eine Zecke gebissen. Und ich hatte jetzt auch die befürchteten Nackenschmerzen. Aber ich konnte nicht zum Arzt gehen, denn ich war nicht krankenversichert. Und ich hatte ja überhaupt kein Geld, um eine Arztrechnung zu bezahlen. Ich hatte auch Angst, daß meine Eltern oder Geschwister wegen meiner Zahlungsunfähigkeit in einem Regreßverfahren drangekommen wären und für mich die offene Arztrechnung begleichen hätten müssen. Also ging ich nicht zum Arzt.

Ich befürchtete natürlich, daß es eine Gehirnhautentzündung ist und ich hatte Angst, große Angst. Ich sehe mich noch vorsichtig vom Hochbett die Leiter hinuntersteigen, kaum in der Lage, mich aufrecht zu halten, mich zum Klo draußen am Gang schleppen, oder in den Supermarkt, um mir Tee oder etwas zum Essen zu kaufen (Kühlschrank gab's nicht!). Ich sehe mich noch eingerollt im Bett liegen, wie ein krankes Tier, zunächst noch vom starken Fieber der Realität enthoben, aber als es mir etwas besser ging, von der Angst voll gepackt. Was soll ich tun? Was kann ich tun? „Ja“, dachte ich, „es kann sein, daß ich Gehirnhautentzündung habe, es kann sein, daß ich daran sterbe, oder daß Gehirnschäden zurückbleiben. Ich kann nichts machen!“ Ich bin gelegen und habe gezittert vor Angst.

Wenn ich verzweifelt war, habe ich immer in den Büchern von Castaneda gelesen und immer bin ich damit aus meiner Verzweiflung oder Angst oder was auch immer herausgekommen. Diese Lektüre hat mich immer „zurechtgerückt“, meinen Blick geweitet und meine Perspektive verändert. Es ist eine Kraft davon ausgegangen, die mich innerlich aufgerichtet hat, sodaß ich bereit war, mich meinem Schicksal zu stellen. Vielleicht hat dieses Gefühl nicht lange angehalten, aber es war da und hat seine Spuren hinterlassen. Aber jetzt hatte ich diese Bücher nicht mehr, denn ich hatte sie in einem Anfall von Selbstverleugnung - „tapfer gegen das eigene Empfinden“ - verbrannt – auch dafür war der unmittelbare, direkte Auslöser der Astrologe Wolfgang Döbereiner, der sie als das Böse schlechthin dargestellt hat (wie der auch der Urheber des obigen Zitates ist).

Mir aber war nichts anderes übriggeblieben, als meine Lage, in die ich mich durch meine Entscheidungen – auch durch die, auf den Döbereiner zu hören – gebracht habe, mit all ihren möglichen Konsequenzen zu akzeptieren und ich war froh, daß ich noch den halben Castaneda auswendig konnte: „ich bin bereits der Kraft anheimgegeben, die mein Schicksal regiert; ich klammere mich an nichts, daher will ich nichts verteidigen ...“









(21./22.6.2017)
















©Peter Alois Rumpf    Juni 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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