721 Der Zeckenbiß
Vor einer Woche bin ich mit Fieber darniedergelegen und
heute schlage ich mich immer noch mit Husten, Schnupfen und manchmal leichten
Nackenschmerzen herum. (Nichts Schlimmes, nur ein wenig lästig.) Aber deswegen
ist mir eine Episode eingefallen, die sich in der ersten Hälfte der
Neunzigerjahre abgespielt hat.
Ich versuchte damals, mein abgebrochenes Theologiestudium zu
Ende zu bringen – Auslöser dafür war der Astrologe Wolfgang Döbereiner – meine
Zeichnerei und Malerei hatte ich aufgegeben – der gleiche Auslöser wie oben.
Ich war vorher nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris – für diese Zeit
ein noch staatlich finanzierter Künstler – zurückgekehrt und war dann bald aus
allen sozialen Netzen gefallen. Ich hatte keinen Job in einem ordentlichen
Anstellungsverhältnis, deshalb keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder
Notstandshilfe. Ich hielt mich mit Taglöhnerjobs ohne Versicherung über Wasser.
Gerade noch. Ich hatte mir eine kleine heruntergekommene Wohnung – die ich
früher mit meiner damaligen Freundin als Lager und Abstellkammer unseres
Ateliers genutzt hatte – das Atelier hatten wir inzwischen schon längst
aufgegeben, aber das Lager, weil es so billig war, war mir noch geblieben - ich
lagerte dort noch Material für Bilder, Skulpturen, Papierstapel, Werkzeuge und
meine Bildwerke – diese schäbige Wohnung also – übrigens die einzige Wohnung
meines Lebens, wo der Mietvertrag auf meinen Namen lief – hatte ich mir so gut
es ging zum Wohnen hergerichtet. Direkt nach meiner Rückkehr aus Paris hatte
ich mehrere Monate in der Druckerei eines guten Menschen gratis wohnen dürfen.
Das war kein Druckereibetrieb, sondern die Druckwerkstätte eines Künstlers, der
sie aber in dieser Zeit aus Rücksicht mir gegenüber nur selten benutzte,
trotzdem auf Dauer ein unhaltbarer Zustand.
Meine Abstellkammer, die ich mir herzurichten versuchte,
hatte höchstens sechszehn Quadratmeter, lag im nicht unterkellerten Teil des
Erdgeschosses und bestand aus einem Küchenraum (würde ich Küche schreiben,
würden falsche Assoziationen entstehen), der mit einer einfachen Holzwand mit
Glastür, Fenster und Oberlichte aufs Stiegenhaus ging und wo man trotz
verhängte Fenster praktisch in der Auslage saß, zumindest in der akkustischen.
Der zweite Raum war kleiner, ein schmaler Schlurf mit einem Fenster zur Straße,
direkt zum Gehsteig, sodaß ich auch da das Fenster verhängen mußte. Dieser Raum
war vor dem Krieg das Geschäftslokal eines Fetzentandlers und in der frühen
Nachkriegszeit hatte man die einzige Öffnung dieses Raumes, nämlich die Tür, zu
eben diesem einen Fenster vermauert. Vermutlich mit sehr einfachen Mitteln und
nicht sehr sorgfältig und professionell, denn von dieser Außenwand her drang Feuchtigkeit ein und hatte den direkt auf der Erde aufliegenden Bretterboden bis
zirka ein Drittel fast komplett aufgelöst. Wir hatten dann – in der
Abstellkammerzeit – einfach eine Preßspanplatte darübergenagelt.
Damit es keine Mißverständnisse gibt: ich war sehr froh, daß
ich diese Wohnung hatte, denn sonst wäre ich obdachlos gewesen und ich habe sie
halt mit äußerst bescheidenen Mitteln hergerichtet. Alte Bretter für Regale,
neues Holz habe ich mir für das Hochbett gekauft, zwei alte
Spanplattenschreibtische hatte ich von einem Freund geschenkt bekommen; einen
stellte ich in die Küche als Eßtisch und „Anrichte“ und als Ablage für das
Geschirrtrocknungsgestell, den anderen in die Kammer als wirklichen
Schreibtisch. In einer Ecke der „Küche“ baute ich mir aus alten Brettern ganz
primitiv so eine Art Ablage für den Kocher. In vielen Schachteln bewahrte ich
meine Kleidung auf, auch die Dokumente, Werkzeuge und so weiter. Einen alten
Kasten, den junge Leute aus einer anderen Wohnung des Hauses teilweise schon
zerschlagen hatten, weil sie ihn wegwerfen wollten, konnte ich gerade noch
abfangen und irgendwie zusammennageln und in die Kammer stellen. Vorher sind
dort alle meine Bilder gestanden. Aber die hatte ich alle zerrissen und
zerschnitten und weggeworfen, auch die Zeichnungen, die nicht viel Platz
beanspruchten, aber eben nicht, weil ich mir in den äußerst beengten
Verhältnissen Platz verschaffen wollte, sondern weil ich meine Arbeiten
inzwischen für Dreck hielt – dies geht übrigens auch auf den Astrologen Wolfgang
Döbereiner zurück. Aber gut, jetzt war
halt Platz für einen Kasten.
In dieser Wohnung gab es kein Wasser – das mußte ich mir von
der Bassena am Gang holen. Deswegen gab es auch kein Bad und keine Toilette in
der Wohnung, überhaupt keinen Wasserabfluß; ich mußte das Abwasser wieder im
Kübel in den Hof tragen und in den Gulli leeren. Nebenbei gesagt, das Wasser
rein und raus zu tragen, das hat mir durchaus gefallen; man geht dann mir
diesem lebensspendenden Element viel ehrfürchtiger um. Waschen mußte ich mich
über dem Lavoir; die Wäsche mußte ich in einen nicht allzu nahen,
heruntergekommenen und von Drogensüchtigen fast „bewohnten“ Waschsalon
schleppen. Die Stromleitungen waren so alt und schwach, daß ich keine
elektrische Kochplatte anschließen konnte. So kochte ich auf einem alten,
primitiven Campinggaskocher – nur mit einer Flamme. Sehr fragil das Ganze –
sodaß ich sehr aufpassen mußte, daß Topf oder Pfanne nicht herunterrutschten,
wenn ich durch die Küche ging oder einen Sessel verrückte und deswegen der Bretterboden
vibrierte.
Einen Kühlschrank hätte das Stromsystem auch nicht
verkraftet, wie die meisten üblichen elektrischen Geräte nicht.
Ich hatte mir, weil sonst kein Ofen in der Wohnung vorhanden
war, einen Herd – mit Holz zu befeuern – gekauft, auf dem ich im Winter kochen
konnte, wenn, ja wenn ich mir das Einheizen leisten konnte. Das ging
durchschnittlich so ein, zweimal die Woche; ich hatte tagelang nur zwölf Grad
in der Wohnung, und wenn es draußen sehr kalt war, konnte die Temperatur auf
acht Grad absinken. Das war aber schon sehr schwer auszuhalten, weil man sich
dann auch im Bett, mehrfach zugedeckt, nicht mehr erwärmt.
Einmal habe ich mich an die Caritas gewandt, die mir dann
einmalig – es wurde erklärt, daß dies nur einmal im Jahr möglich sei – einen
Sack Holz geschenkt und angeliefert hat. Das Holz – sowohl das gekaufte wie das
geschenkte – ließ ich mir in die Küche leeren, wo ich es dann an der Wand
aufschichtete. Durchaus romantisch, aber sehr staubig; aber das war in dieser
Wohnung auch schon egal, denn unter der oben erwähnten Preßspanplatte in der
Kammer staubte ja auch der nackte Erdboden hervor.
Meine sozialen Kontakte hatte ich sehr reduziert,
Freundschaften aufgegeben oder vernachlässigt - auch das eine Auswirkung der
Begegnung mit dem Astrologen Wolfgang Döbereiner – sodaß ich sehr zurückgezogen
lebte. Wenn es nicht ein paar Freunde gegeben hätte, die trotz meiner
Widerstände und meinem döbranitischen Dogmatismus den Kontakt nicht abgebrochen
haben, wer weiß, wo ich gelandet wäre.
Ich erinnere mich nicht mehr in welchem Jahr genau das war,
aber ich weiß noch, daß es im Herbst war, da wurde ich krank und hatte
ungewöhnlich hohes Fieber, über die Vierzig-Grad-Marke. Normalerweise neige ich
nicht zu hohem Fieber, im Gegenteil, ich fange bei 38.5 schon zu phantasieren
an. Deswegen machte ich mir große Sorgen, denn im Sommer vorher hatte mich eine
Zecke gebissen. Und ich hatte jetzt auch die befürchteten Nackenschmerzen. Aber
ich konnte nicht zum Arzt gehen, denn ich war nicht krankenversichert. Und ich
hatte ja überhaupt kein Geld, um eine Arztrechnung zu bezahlen. Ich hatte auch
Angst, daß meine Eltern oder Geschwister wegen meiner Zahlungsunfähigkeit in
einem Regreßverfahren drangekommen wären und für mich die offene Arztrechnung
begleichen hätten müssen. Also ging ich nicht zum Arzt.
Ich befürchtete natürlich, daß es eine Gehirnhautentzündung
ist und ich hatte Angst, große Angst. Ich sehe mich noch vorsichtig vom
Hochbett die Leiter hinuntersteigen, kaum in der Lage, mich aufrecht zu halten,
mich zum Klo draußen am Gang schleppen, oder in den Supermarkt, um mir Tee oder
etwas zum Essen zu kaufen (Kühlschrank gab's nicht!). Ich sehe mich noch
eingerollt im Bett liegen, wie ein krankes Tier, zunächst noch vom starken
Fieber der Realität enthoben, aber als es mir etwas besser ging, von der Angst
voll gepackt. Was soll ich tun? Was kann ich tun? „Ja“, dachte ich, „es kann
sein, daß ich Gehirnhautentzündung habe, es kann sein, daß ich daran sterbe,
oder daß Gehirnschäden zurückbleiben. Ich kann nichts machen!“ Ich bin gelegen
und habe gezittert vor Angst.
Wenn ich verzweifelt war, habe ich immer in den Büchern von
Castaneda gelesen und immer bin ich damit aus meiner Verzweiflung oder Angst
oder was auch immer herausgekommen. Diese Lektüre hat mich immer
„zurechtgerückt“, meinen Blick geweitet und meine Perspektive verändert. Es ist
eine Kraft davon ausgegangen, die mich innerlich aufgerichtet hat, sodaß ich
bereit war, mich meinem Schicksal zu stellen. Vielleicht hat dieses Gefühl
nicht lange angehalten, aber es war da und hat seine Spuren hinterlassen. Aber
jetzt hatte ich diese Bücher nicht mehr, denn ich hatte sie in einem Anfall von
Selbstverleugnung - „tapfer gegen das eigene Empfinden“ - verbrannt – auch
dafür war der unmittelbare, direkte Auslöser der Astrologe Wolfgang Döbereiner,
der sie als das Böse schlechthin dargestellt hat (wie der auch der Urheber des
obigen Zitates ist).
Mir aber war nichts anderes übriggeblieben, als meine Lage,
in die ich mich durch meine Entscheidungen – auch durch die, auf den Döbereiner
zu hören – gebracht habe, mit all ihren möglichen Konsequenzen zu akzeptieren
und ich war froh, daß ich noch den halben Castaneda auswendig konnte: „ich bin
bereits der Kraft anheimgegeben, die mein Schicksal regiert; ich klammere mich
an nichts, daher will ich nichts verteidigen ...“
(21./22.6.2017)
©Peter Alois Rumpf
Juni 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
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