716 Keine Schutzschilder
Als in der Arbeit fünf Angerufene hintereinander sehr
unfreundlich bis aggressiv reagiert haben, ist mir fast schlecht geworden. Ich
habe gezittert und mich aufgeregt und war gegen die Angriffe wehrlos. Ich kann
mir das Ganze noch so sehr im Kopf zurechtlegen und mir die Gründe klar machen
– in der konkreten Situation bin ich wehrlos. Und ich meine damit nicht, daß
ich „zurückschlagen“ sollte oder den
Disput gewinnen, sondern lediglich, daß ich seelisch heil und
unbeschädigt aus der Situation herauskomme. Es geht nur darum, daß ich mich vor
der Aggression schützen können will und eben nicht wie gelähmt bin, sondern
gegen die Attacke ein Schutzschild aufzustellen in der Lage. Ich habe nämlich
keine Schutzschilder. Ich lebe mein ganzes Leben schon wie in einem besetzten
Land. Darum auch immer dieses ekelhafte Gefühl der eigenen Korruptheit, wenn
ich bei einem Spaziergang zum Beispiel
unbehelligt bleibe oder irgendwo – vielleicht gar als Gast - mein Mittagessen
verzehre. Und wenn ich einmal „gut drauf“ bin, denke und fühle ich selber: das
ist manisch, größenwahnsinnig; ich beanspruche viel zu viel Raum und Zeit, und
Aufmerksamkeit, Ressourcen, ich rede zu viel (schreibe zu viel) … - die Götter werden eifersüchtig und
aggressiv werden und mich vernichten. (Ja, ja, mit dem Intellekt durchschaue
ich das schon und kann es analysieren; nur: meine Seele ist noch immer gefangen.)
Ich habe selber nicht das Gefühl, daß ich berechtigt bin, für meinen
Lebensunterhalt Leute anzurufen, meine Arbeit zu machen et cetera.
Jetzt, wo ich das aufschreibe, geht zuerst eine Welle von
Verzweiflung über mich, dann eine Welle von Wut. (Zuerst der Selbstmord, dann
das Massaker – wobei ich mich bei ersterer Phantasie als Angreifer, bei der
zweiten jedoch nur als mich verteidigend empfinde. Auch interessant!)
Ich müßte mich nur schützen können, nur schützen. Daß etwas
in mir ist, das es nicht zuläßt, daß mich die Aggressoren definieren. Aber so
etwas habe ich nicht in mir! In mir gibt es kein Selbstwertgefühl. Ich kann und
konnte auch meinen Kindern nicht – glaubwürdig – gegenübertreten als Vater, der
ihnen die Welt erklärt, weil ich die Welt nie verstanden und mich in ihr nie
zurecht gefunden habe. Wenn ich …
Wenn ich zu einem Buch greife, aus dem Bereich der
Psychologie oder über Therapien, Kindererziehung, Partnerschaft oder was auch
immer, dann schreiben die über Menschen, die in einer höheren Liga spielen als
ich und die daher ihre Therapien zum Beispiel von einem viel höheren Niveau aus
starten. Ich finde mich darin nur in Teilaspekten wieder, nicht in meiner
existentiellen Grundverfaßtheit. Das gilt auch für die Literatur. Viel stärker
erkenne ich mich in Biographien über Nazitäter wieder, wie etwa Franz Stangl
was ihre „Psychologie“ betrifft, obwohl die natürlich auch „erfolgreicher“
waren als ich (Das ist der Punkt, wo ich froh bin, in meinem Leben nicht
erfolgreich gewesen zu sein). Das Grundproblem ist aber das gleiche: den innersten
Seelenkern nicht kennen, das eigene wahre Lebenspotential nicht entfalten, von
sich selber nichts wissen, die eigenen Bedürfnisse nicht kennen,
außenorientiert sein, abhängig, unselbständig ... weiß der Teufel, was noch.
Ich kenne jedoch keine positiven Beispiele von solchen
deformierten Menschen, wie sie sich ihrer Wahrheit, ihren Beschädigungen, ihren
Lebensanforderungen stellen und wachsen, reifen und ausheilen können. Die
Heilungsprozesse, die ich aus der Literatur kenne, setzen auf einem höheren
Level an, und die Lebensgeschichten von Leuten meiner Liga erzählen von und
enden alle in Katastrophen.
Kennt jemand eine gelungene Heilungsgeschichte, die zu mir
passen könnte?
Selektive Wahrnehmung?
Die Rekapitulation – ich habe sie nicht geschafft.
(8./9./10./12.6.2017)
©Peter Alois Rumpf
Juni 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
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