Mittwoch, 26. Juli 2017

712 „Am Abgrund“

In der Nacht draußen biegt der Wind die Bäume und heult hier um die Wände, Mauern, Ecken und Fenster herum.

Zögerlich und ängstlich schaue ich auf die Tatsache, daß mein innerster Wesenskern vielleicht noch nie in meinem Leben zu Entfaltung gekommen ist und mein Leben und meine Persönlichkeit noch nie bestimmt hat. (Ich sagte ja: zögerlich und ängstlich!) Daß ich diesen Wesenskern nie zur Entfaltung habe kommen lassen.           Ich wüßte gar nicht, was der bei mir ist. Daß es ihn bei jedem Menschen gibt, glaube ich. Bei mir selber bin ich skeptisch.

Ich bin wie ein „Blatt im Wind“. Ich muß das nüchtern feststellen. Nicht wie ein Baum; der kann gebogen werden oder brechen, aber er hat einen Standort.

Ich bin nichts. Gar nichts. Das „ich bin“ ist noch zu viel.

Meine Wahrnehmung fängt an, sich an manchen Stellen zu verflüssigen. Die Konturen verschwimmen; winzige, nur eine halbe Sekunde existierende Pfützen von Vibration entstehen und vergehen gleich wieder. Müdigkeit überrollt mich.

Wie von Ferne spüre ich, wie meine Seele, oder was das ist, oder was davon übrig geblieben ist, an einem übelkeiterregenden Abgrund steht, aber nur von Ferne.

Alles arbeitet schon wieder fleißig daran, diesen Abgrund zu vernebeln und mich behaglich abzulenken. Und es gelingt. Die Müdigkeit trägt auch dazu bei.
Immer öfter fallen mir die Wörter nicht ein, die ich hinschreiben will.






(Dieser Text ist nach der Lektüre von „Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka“ von Gitta Sereny; Piper 1995, geschrieben.)










(6./7.6.2017)











©Peter Alois Rumpf    Juni 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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