705 Ich bin – so halbwegs kommt es hin – beim Lesen eingeschlafen
Ich bin – so halbwegs kommt es hin – beim Lesen
eingeschlafen. Die Augen sind mir zugefallen, ich konnte gerade noch Buch und
Brille weglegen. Doch jedesmal, wenn die Arbeiter am Dach, die selbiges
erneuern, aber jetzt einmal das alte abbauen – die Dachziegel haben sie schon
die letzten Tage entfernt – die Tram und Pfosten absägen, ihre Bohrmaschinen
und Sägen starten, reißt es mich hoch in die wildeste Verwirrung, aus dem
Schlaf, den man nicht den des Gerechten nennen kann.
Es ist ungewöhnlich, daß ich um diese vormittägliche
Mittagszeit schlafe, ich schrecke auf, will meine Lesebrille herunternehmen um
besser sehen zu können, aber die liegt schon bei der Leselampe. Angstvoll frage
ich mich, ob ich die Zeit übersehen habe und schon zu spät zur Arbeit bin; im
ersten Moment weiß ich gar nichts, Stück für Stück muß ich mir erst die
Realität zusammensuchen. Nein, dort steht die Uhr, da kannst du die Zeit
ablesen, es ist überraschend spät, ich muß länger geschlafen haben; das denke
ich, obwohl ich nicht sagen kann, wann ich eingeschlafen bin; nicht einmal,
wann ich das Buch in die Hand genommen habe.
Der Schlaf des Gerechten soll es meinetwegen nicht gewesen
sein, aber ein Schlaf, der aus der tiefen Entspannung aus der Lektüre gekommen
ist. Nicht, weil mir dabei langweilig geworden wäre, sondern weil meine Seele
von der Erzählung und den Beschreibungen glücklich verlockt sich in tiefere
Schichten begeben hat. Oder meine Aufmerksamkeit in tiefere Schichten meiner
Seele, um sich dort träumend aufzulösen. Ein Heilschlaf, gewissermaßen. Schade,
daß er mehrmals gestört wurde; von außen durch den Lärm der Arbeiter, deren
Verrichtungen in unserer Idiotenwelt besser geschützt, fundamentaler begründet
und mit selbstverständlicherer Notwendigkeit ausgestattet sind als irgendetwas
anderes – früher zum Beispiel waren lärmende Arbeiten in der Nähe einer Kirche
während des Gottesdienstes verboten; wenigstens etwas, wenigstens eine kleine
Oase für die Begegnung von Himmel und Erde, für die Heilung der Seelen, für die
Möglichkeit, das Andere zu ahnen. Mit solchem Luxus ist es heute vorbei.
Meinetwegen zu recht, was die Kirchen betrifft, denn mir hat man einmal den
Wunsch, in einer Kirche, vor dem Allerheiligsten sozusagen, übernachten und
dort schlafen zu dürfen – ich dachte damals an den Schlaf des Prophetenschülers
im Tempel – nicht erlaubt. So feig sind sie, und so wenig vertrauen sie auf die
Macht ihres Gottes, daß sie ihn mit ihrer Bürokratie schützen zu müssen
glauben. Auch sie haben sich der Logik des Materiellen unterworfen. (Naja, ganz
fair ist diese Attacke – möglicherweise - nicht.)
Aber auch ich, denn von innen bohrte und sägte lärmend die
Sorge, zu spät zur Arbeit zu kommen. Auch ich habe mich unterworfen. Was ist
denn das Zu-spät-Kommen im Vergleich zur Heilung der Seele?! Nichts, gar
nichts, und trotzdem gebe ich dem mehr Gewicht.
22./24.5.2017)
©Peter Alois Rumpf Mai 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
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