Mittwoch, 26. Juli 2017

698 Ich gehe als Sieger vom Platz

Ich wähle mir einen der freien Arbeitsplätze aus, hinten an der Ecke, beim Fenster. Ich stelle meinen Rucksack auf den Stuhl - das ist zugleich die Platzreservierung – und gehe in den anderen Raum hinüber – ein paar Stufen hinunter, ein paar Stufen hinauf – um mir aus meinem Fach zu holen, was ich für meine heutige Tätigkeit benötige; diesmal ist es nur der Windschutz für das Mikrophon des Headsets. Am Rückweg nehme ich noch eine Flasche stilles Wasser („Stille Wasser sind tief“ - nein, ein Scherz!) aus der winzigen Küche und gehe zu meinem Platz. Ich schalte mein Handy aus, hänge mein Sakko über die Stuhllehne und nehme alles aus dem Rucksack, was ich für die Arbeit brauche: Notizbuch, um Arbeitszeiten, die Nummer der Studie und Anzahl der Interviews für mich zu notieren, Brille, Kugelschreiber, Bleistift und einen kleinen Stoffball, den ich zur nervlichen Entspannung nütze und dafür, meine rechte Hand, die ständig die Maus einsatzbereit festhält, ab und zu zu entkrampfen, indem ich den Ball von der rechten Hand in die linke werfe und retour und dann noch ein paarmal hin und her.

Ich setze mich hin, ordne alles nach meinem Geschmack, verteile meine Dinge auf dem Tisch, fahre den Computer hoch, logge mich auf die „erste Ebene“ ein, nehme das bereitliegende Tagesprotokoll, trage meinen Namen, meine Interviewernummer, Datum, Nummer des Arbeitsplatzes, Beginn und Ende der Arbeitsschicht ein und später, im Laufe der Arbeit, ein Stricherl für jedes abgeschlossene Interview. Dann logge ich mich am Computer in die „zweite Ebene“ ein und markiere die Studie, für die ich heute arbeite.

Jetzt habe ich ein bißchen Zeit bis zum Arbeitsbeginn. Ich nehme einen Schluck Wasser, plaudere mit Kollegen und Kolleginnen - wie es sich halt ergibt – oder gehe ein wenig in mich, um meine aufsteigenden Anspannung und Nervösität etwas aufzufangen. Im Scherz sage ich immer, ich gehe die Studie im Geist durch, wie ein Schirennläufer vorm Start seinen Parcour.

Mir ist es recht, wenn ich vor Arbeitsbeginn noch zehn, fünfzehn Minuten Zeit habe um mich zu sammeln oder zu zerstreuen – wie schon gesagt – je nachdem, wie es sich ergibt.

Meistens bin ich um diese Zeit sehr müde. Wenn ich still bin, gehen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf: wie wird es heute? Werde ich genug Interviews machen? Werden die Leute freundlich oder unfreundlich sein? Wird mich jemand beschimpfen? Wird es leicht, wird es schwer? Werden wir gute oder schlechte Telefonnummern haben? Wird es hier sehr voll und laut sein oder wird der Lärmpegel erträglich sein? Und so weiter.

Schichtbeginn. Die Supervisorin gibt noch ein paar Anmerkungen zur Studie. Ich nehme noch einen Schluck Wasser, dann setze ich mir das Headset auf, fahre die Lautsprecher im Kopfhörer auf das halbe Volumen herunter, um mein Gehör zu schonen, klicke die heutige Studie an um hineinzukommen, vergrößere dreimal die Schrift am Bildschirm und klicke jetzt die am Bildschirm gezeigte Telefonnummer an, um den Anrufvorgang zu starten.

Nach zwei, drei vergeblichen Anrufen habe ich jemandem am Telefon und wirklich, es gelingt mir das erste Interview. Das ist selten. Meistens dauert es lange, bis man jemanden erreicht, und daß die erste Person, die abgehoben hat, mitmacht, das ist äußerst selten. Darum freue ich mich auch und Erleichterung und Zuversicht steigen in mir auf. Aber ich erinnere mich daran, daß es schon vorgekommen ist, daß mir ein guter Start gelungen, aber dann in der ganzen Schicht kein einziges Interview mehr zustande gekommen ist. Ich wappne mich für Enttäuschungen, denn für Euphorie ist es noch viel zu früh.

Ich mache weiter, rufe eine Nummer nach der anderen an, wie sie mir der Computer einspielt, Mailboxen, nicht erreicht, Verweigerungen, die eine oder andere Vereinbarung für einen neuerlichen Anruf zu einer günstigeren Zeit – die erweisen sich oft, aber nicht immer, als getarnte Verweigerungen, indem zum vereinbarten Zeitpunkt niemand abhebt. Aber es dauert nicht allzu lange, bis ich mein zweites Interview mache. Ich schaue auf die Statistik: ich bin mit meinen zwei Interviews über dem Durchschnitt. Das beruhigt mich. Der Pegel von Erleichterung und Zuversicht steigt. Ich werde schon fast fröhlich. Wieder versuche ich, meine aufkommende Euphorie etwas einzubremsen – es ist noch viel zu früh, um Bilanz zu ziehen.

Noch ein Interview. Ich bedanke mich bei den Interviewten immer sehr überschwenglich. Bei mir nenne ich das „meinen Schlußsegen“. Ich bedanke mich, wünsche schönen Tag/ Abend/ Woche/ Wochenende und „alles Gute für Sie“. Und meistens – vor allem, wenn das Gespräch in angenehmer Atmosphäre abgelaufen ist oder mich irgendeine Aussage des Gesprächspartners berührt hat -  lege ich viel Intention in diesen Spruch.

Wieder ein Interview. Schaut wirklich aus, daß es heute für mich so gut läuft wie schon lange nicht mehr. Tatsächlich, wieder ein Interview.

Jetzt ist Zeit für die erste Zehn-Minuten-Pause. Ich esse meine mitgebrachten, im Menagereindl warmgehaltene Speisen – meistens Getreide und Gemüse in verschiedensten Variationen und Mischungen. Dann geht es wieder weiter.

Ja, es wird wirklich ein guter Tag. Ablehnungen stecke ich wegen des Erfolges locker weg. Meine Euphorie wird immer größer und Unfreundlichkeiten können mir heute wenig anhaben. Mein „Schlußsegen“ bei erfolgreichen Interviews wird immer „heiliger“; ich klinge schon wie ein in Verzückung geratener missionierender und Halleluja singender Sektierer. Aber ich freue mich ja wirklich. Ich habe heute ja wirklich Glück. Innerlich muß ich lachen und kopfschütteln über meine Freude, weil ich weiß, es werden wieder andere Tage kommen. Eigentlich habe ich mir mehr Gleichmut verordnet, denn wer sein Herz an den Erfolg hängt, wird bei Mißerfolg viel leiden. Zu diesem Gleichmut will ich mich zurückrufen. Aber es geht nicht; ich freue mich zu sehr und bin über meinen Erfolg glücklich.

Ich lächle über mein Verhalten. Zwischendurch, in Phasen, wo man niemanden erreicht, oder niemand mitmacht, wird es etwas mühsam und fad, aber meine optimistische Grundstimmung kann das alles nicht beeinträchtigen: heute habe ich viele Interviews.

Zweite Zehn-Minuten-Pause. Nur mehr eineinhalb Stunden bis Schichtende und Beginn des Wochenendes.

Wieder ein Interview. Ich habe einen großen Vorsprung; ich kann heute kaum noch eingeholt werden. Diesen Abend werde ich als Sieger vom Platz gehen. Ich bewege mich in einer Wolke aus Euphorie.









(14./15.5.2017)















 ©Peter Alois Rumpf    Mai 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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