704 Mit meiner Zeitrechnung stimmt etwas nicht
Innsbruck. Ich habe nicht das Recht zu überleben. Ich habe
nicht das Recht in Hotels abzusteigen (von welchem Pferd übrigens? Ich habe ja
nicht einmal den Führerschein), vom Personal höflich behandelt zu werden, in einer Restauration essen zu gehen … und alles andere auch nicht. Ich habe nicht das
Recht dazu – ich habe es mir nicht verdient.
An und für sich brauche ich mir deswegen keine Sorgen
machen, denn die Bestrafung für meine Hybris kommt sicher aus dem Leben heraus.
Draußen lärmt die Straßenreinigung. Sie ist genauso
unbarmherzig wie ein Wald; und das ist gut so. Ich finde es direkt
erleichternd, daß die Straßenreinigung unbarmherzig und gnadenlos ist. Eine
Welt, wo es sich anders verhielte, wäre nicht zu ertragen.
Ich bin es, der das Leben bestiehlt. Irgendwann werden sie
mich erwischen. Kleine Hinweise gibt es schon.
Mir steht es nicht zu, eine Aussage zu machen, oder ein für
mein altes Handy unbrauchbares Ladegerät – wo ich beim Kauf mein Handy der
Verkäuferin hergezeigt habe – gegen Rückerstattung des Geldes im Geschäft
zurück zu geben. Nein, das alles steht mir nicht zu. Nicht die Verkäufer sind
schuld, wenn sie mir ein falsches Ladegerät verkaufen, sondern ich, ich, ich,
weil ich mir ein falsches Ladegerät andrehen habe lassen.
Es ist Mai, und es liegt noch Schnee auf den Bergen, die an
ihren Spitzen von weißen und grauen Wolken eingehüllt sind, wie ich aus dem
Hotelfenster sehen kann.
Mit meiner Zeitrechnung stimmt etwas nicht; ich schätze
meine Stellung in der Welt ganz falsch ein. Und überhaupt: was ist real? Was
ich sehe, kann eigentlich nicht sein! Auch daß ich Leute auf der Straße reden
höre, kommt mir ganz unmöglich vor; dies muß eine akustische Täuschung sein.
Alles steuert auf etwas Unfaßliches zu. Das da draußen erweckt einen falschen
Eindruck von Vertrautheit; in Wirklichkeit ist es ganz, ganz fremd. Der falsche
Film, was ich nicht gleich bemerkt habe. Aber jetzt ist zu spät. Dieser Film
ist schon fast zu Ende; und der richtige, im anderen Saal, wo ich sitzen
sollte, der auch. Auch alle Uhren, die ich gekauft habe, sind nach ein paar
Wochen falsch gegangen.
„Und? Gesundheitlich?“
„Mit einen hinnigen Kreuz kann ich aufwarten.“ Der Kugelschreiber
schreibt immer schwächer. Meine Kugelschreiber sind im verschwundenen Rucksack.
Ach, das Kreuz! Das passt doch eh so gut! Ein besseres,
deutlicheres, zutreffenderes Symptom kann ich mir doch gar nicht ausdenken!
„Dann tritt ich dir ins Kreuz!“, zu Kreuze kriechen, „in
diesem Zeichen wirst du siegen“/verlieren. „Es ist ein Kreuz mit dir!“ Segnen,
das Kreuz über etwas oder jemanden machen. Kreuzfidel. Du kannst mich
kreuzweis! Diachron – synchron. Kreuzstiche. Rosenkreuzer. Kreuzkümmel.
Kreuzzeichen. Kreuzbrav. ...fällt zum
371igsten Male unter dem Kreuz. Unter das Kreuz. Kreuzworträtsel.
Meine Augen sind schon müde; ich laufe an dem vorbei, was
ich suche. Mein Geist ist schon müde, er merkt sich nicht, ob wir halb oder dreiviertel
ausgemacht haben, ob fünf oder sechs. Lediglich in Ahnungen unterwegs; oft
stimmen sie eh.
Ich bin ganz zufrieden. Alles hat genau die Dimensionen, die
zu mir passen, die mir gehören, die mich umsorgen, die mir entsprechen.
Ich habe so einiges erzählt. Nur von Döbereiner nicht. Davon
zu erzählen schaffe ich face to face nicht. Es ist beschämend, sich einem
Menschen so ausgeliefert zu haben, und sie werden sehen, daß ich kein „ich“
habe, daß ich nichts bin. Nicht, daß ich nichts habe, daß ich nichts bin.
Das ist die größte Schande.
(20.5.2017)
©Peter Alois
Rumpf Mai 2017 peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite