718 Vom Fieber seelisch angeschwollen
Ich ziehe den Rotz die Nase hinauf und ignoriere meine
tränenden, fiebrigen Augen; ich bin von dieser Fieberentfremdung eingehüllt.
Die Glieder schmerzen ein wenig, alles fühlt sich lästig an, Ungeduld und ein
schwächelnder, ungerichteter, schwammiger Zorn machen mich unleidlich. Das
Kreuz, dieses alte, hinnige Kreuz trägt auch sein Scherflein bei. Die Nase
brennt, ich huste, der Hals schmerzt, vor allem beim Reden und Schlucken.
Das Surren, das mich so gut wie immer begleitet, ist durch
das Fieber ein, zwei Stufen intensiver. Meine Gedanken umkreisen wie aus
Gewohnheit mein verfahrenes Leben, aber es ist mir wurscht, scheißegal, das
Fieber macht mich gleichgültig und verantwortungsbefreit. Sollen sie kreisen
wie und wo sie wollen.
Ich kann jetzt die lawinenartigen Ansprüche der Alltagswelt
zurückstellen, ich gebe alle Bemühungen auf, ich habe „Ferien vom ich“. Auch
das Schreibzeug lege ich jetzt weg.
Ich lese in einem veralteten Lesebuch für die Unterstufe und
Gefühle und Erinnerungen meiner Kindheit strömen in mich hinein oder aus mir
heraus. Das Heute und das Vorvorvorgestrige vermischen sich; durch das Fieber
verstärkt, denn allein schon das Kranksein führt mich in meine Kindheit zurück.
Eine immense Wehmut überschwemmt mich, ein Schmerz, der nichts mit einer
Sehnsucht nach der Kindheit zu tun hat; oder doch, aber nicht, weil die
Kindheit so schön gewesen wäre, sondern weil mir damals – wie ich noch glaubte
– mein Leben offen stand.
Zwar hatte ich schon bemerkt, an wie vielen Stellen mein
junges Leben gefesselt war, ich glaubte jedoch naiv, daß die Zeit die Wunden
heilen werde. Ich glaubte damals noch, ich könne meinen Platz in der Welt und
in der Gesellschaft finden und ein „normales“ Leben führen, wenn dieser Glaube
auch schon an manchen Stellen brüchig wurde und mich die Angst vor der Zukunft
von Zeit zu Zeit packte. Werde ich, der ich zu nichts zu gebrauchen war, einen
Beruf finden? Eine Frau? Kinder haben und ihnen ein fester Vater sein können?
Werde ich Geld verdienen und Autofahren können? Das ist eigentlich alles
unvorstellbar, aber ich werde größer werden und erwachsen und das alles wird
schon irgendwie kommen.
(12./13./19.6.2017)
©Peter Alois Rumpf
Juni 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite