Mittwoch, 26. Juli 2017

718 Vom Fieber seelisch angeschwollen

Ich ziehe den Rotz die Nase hinauf und ignoriere meine tränenden, fiebrigen Augen; ich bin von dieser Fieberentfremdung eingehüllt. Die Glieder schmerzen ein wenig, alles fühlt sich lästig an, Ungeduld und ein schwächelnder, ungerichteter, schwammiger Zorn machen mich unleidlich. Das Kreuz, dieses alte, hinnige Kreuz trägt auch sein Scherflein bei. Die Nase brennt, ich huste, der Hals schmerzt, vor allem beim Reden und Schlucken.

Das Surren, das mich so gut wie immer begleitet, ist durch das Fieber ein, zwei Stufen intensiver. Meine Gedanken umkreisen wie aus Gewohnheit mein verfahrenes Leben, aber es ist mir wurscht, scheißegal, das Fieber macht mich gleichgültig und verantwortungsbefreit. Sollen sie kreisen wie und wo sie wollen.
Ich kann jetzt die lawinenartigen Ansprüche der Alltagswelt zurückstellen, ich gebe alle Bemühungen auf, ich habe „Ferien vom ich“. Auch das Schreibzeug lege ich jetzt weg.

Ich lese in einem veralteten Lesebuch für die Unterstufe und Gefühle und Erinnerungen meiner Kindheit strömen in mich hinein oder aus mir heraus. Das Heute und das Vorvorvorgestrige vermischen sich; durch das Fieber verstärkt, denn allein schon das Kranksein führt mich in meine Kindheit zurück. Eine immense Wehmut überschwemmt mich, ein Schmerz, der nichts mit einer Sehnsucht nach der Kindheit zu tun hat; oder doch, aber nicht, weil die Kindheit so schön gewesen wäre, sondern weil mir damals – wie ich noch glaubte – mein Leben offen stand.
Zwar hatte ich schon bemerkt, an wie vielen Stellen mein junges Leben gefesselt war, ich glaubte jedoch naiv, daß die Zeit die Wunden heilen werde. Ich glaubte damals noch, ich könne meinen Platz in der Welt und in der Gesellschaft finden und ein „normales“ Leben führen, wenn dieser Glaube auch schon an manchen Stellen brüchig wurde und mich die Angst vor der Zukunft von Zeit zu Zeit packte. Werde ich, der ich zu nichts zu gebrauchen war, einen Beruf finden? Eine Frau? Kinder haben und ihnen ein fester Vater sein können? Werde ich Geld verdienen und Autofahren können? Das ist eigentlich alles unvorstellbar, aber ich werde größer werden und erwachsen und das alles wird schon irgendwie kommen.









(12./13./19.6.2017)












©Peter Alois Rumpf    Juni 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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