613 Brief an meine LeserInnen
(bei einer Lesung würde ich die Überschrift so aussprechen:
„Brief an meine Leserinnen“, und dann: „oder: Brief an meine Leser – innen!“.)
Liebe Leserinnen und Leser. Wenn ihr meine Texte lest, wie
ist das für euch? Natürlich, ganz verschieden; für die eine so, für den anderen
so. Und auch nicht an jedem Tag gleich. Oder am Morgen vielleicht anders als am
Abend. Gut, am Morgen werden nicht allzuviele Zeit haben. Ich vermute, es wird
eher abends gelesen – da müßte ich eine empirische Leserbefragung machen.
Kleiner Scherz! Ihr wißt schon, Selbstironie, weil ich in einem Callcenter für
empirische Sozialforschung mein Brot verdiene. Egal.
Aber was spielt sich in euch innen ab? Auch je nach Text
verschieden. Ach! … Anders!
Also bei mir spielt sich beim Schreiben ganz
Unterschiedliches ab, je nachdem. Wenn ich eine wirkliche Geschichte etwa aus
meiner Kindheit erzähle, begleiten mich oft starke Gefühle wie zum Beispiel
Trauer. Wieweit das mit Selbstmitleid zu tun hat, weiß ich nicht. (Das müßte
man dem Texten anmerken.) (Beinahe reizt es mich – schlampig, aber wen denn!
Nestroy? Raimund? - zu zitieren: „es ist ewig schad um mich“.) Da bin ich sehr
bemüht, nüchtern und diszipliniert zu schreiben, weil ich dabei immer wieder
sehr unsicher und aufgeregt werde, wenn es sich um einen für mich brisanten
Inhalt handelt. Jedenfalls versuche ich in Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit der
Wahrheit des Geschehens gerecht zu werden. Was nicht heißt, daß mich starke
Emotionen nicht doch mitreißen können. Ich hatte oft große Hemmungen, solche
intime Dinge preiszugeben, aber das Bedürfnis, endlich – vor meinem Lebensende
– davon zu erzählen - und sei es sozusagen in eine imaginierte Zuhörerschaft
hinaus – und es damit auch ein wenig loszuwerden, war dann fast immer doch stärker. (Ein paar Sachen gibt es
noch, die ich bis jetzt noch nicht erzählen konnte.)
Die Erzählungen aus meiner Grazer Zeit waren meistens von
innerem Lachen begleitet. Wenn ich mich bei meinen ersten Schritten in der mir
komplett fremden Welt sehe, völlig unvorbereitet und im Stich gelassen, gibt es
viel Schmerz und Trauer dazu, aber dennoch, das Lachen über meine Eskapaden und
die Freude über die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Anstöße
überwiegen, trotz aller Irrwege und Verzweiflungen.
Bei den Erzählungen über meine Begegnungen mit dem
Astrologen Döbereiner begleiteten mich oft Trauer, Zorn. Und Entsetzen, daß ich
mich einem Menschen, seiner Wut und seinen Verurteilungen so ausliefern konnte; schließlich habe
ich mich ja freiwillig da hineinbegeben. Aber ich staune dabei immer noch über
Gebäude seiner Münchner Rhythmenlehre.
Wenn ich „Betrachtungstexte“ - das sind die, die ich im Bett
vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen fabriziere – schreibe, horche ich
oft in mich hinein, was sich so zeige, welche Erinnerungen, Bilder, Gedanken
und Assoziationen auftauchen. Oder ich achte darauf, was sich in meinem Körper
abspielt, oder ich blicke auf meine Umgebung – was sticht mir ins Auge und was
löst es aus? Wo bleiben meine weidenden Augen hängen? Das ist dann in meinem
Zimmer vergleichsweise nicht so viel, obwohl es mir erst durchs Schreiben
bewußt geworden ist, wie viel in meiner Kammer da ist und wie verschieden ich es
wahrnehmen und fühlen kann, anders am Abend als am Morgen, in der Nacht als am
Tag, bei unterschiedlichem Licht und Stimmungspegel und so weiter.
Bei diesen Texten bin ich viel spielerischer und bin ganz
vergnügt, wenn mir soetwas wie ein Gag, eine Pointe einfällt. Ja, ich freue
mich regelrecht, wenn ich euch, liebe Leserinnen und Leser, ein wenig an der
Nase herumführen kann, wenn ich etwas hinter irreführenden Beschreibungen,
Bezeichnungen und Überschriften verstecken kann – schon mit der unterschwelligen
Aufforderung, mit mir ein wenig hide and seek zu spielen – oder wenn ich etwas
gewollt umständlich beschreibe, oder kleine Überraschungen platziere, indem ich
besonders altmodische Wörter und Wortformen (Konjunktiv!) in einen „normalen“
Text einbaue oder extrem dialektale (fast hätte ich geschrieben: dialektische)
oder grenzwertige in erhabener formulierten Passagen. Oder das Spiel mit neuer
und alter Rechtschreibung, mit Worterfindungen, Wortungetümen, falsch
frisierten Redewendungen, schrägen Metaphern, lautliche Wiederholungen,
Umkreisungen und so fort – da denke und ziele ich bewußt an und auf meine
LeserInnen (oder mit grammatisch fragwürdigen Satzkonstruktionen,
Zeichensetzungen); das alles will euch ein wenig aufrütteln – nein, das ist zu
viel gesagt – berühren – nein, das ist zu intim – anrühren – detto – anklopfen
vielleicht; ich klopfe an, eh meistens freundlich grinsend (Hmmmm … ich weiß
nicht recht …). (Ihr kennt eh das Sprichwort, „was sich liebt, das neckt
sich“.) Und ich kichere dabei, meist innerlich. Nun, nicht vergessen, ihr seid
für mich zum allergrößten Teil (welch eine Übertreibung!) sehr abstrakt,
imaginär. Ich spreche dabei sozusagen das Universum an (wieder eine
Übertreibung!). Obwohl: „an der Grenze meiner Endlichkeit beginnt meine
Unendlichkeit.“ (Ist das ein Döbereinersatz? Ich glaube schon, genau weiß ich
es nicht mehr.) (Das „mein“ bei der Unendlichkeit nicht in dem Sinn, daß die
mir gehört, sondern daß es um den Teil, um die Seite derselben
geht, der, die für mich zuständig ist. Mein Zugang, sozusagen. Genug
abgeschwiffen.)
(Bei dieser Schreiberei komme ich mir wie ein
Sprachalchimist vor; das sage ich im vollen Wissen, daß die nie das Gold
gefunden haben; allerdings haben sie sehr viel anderes entdeckt.)
Manchmal führt mich diese Einschlaf-Aufwach-Methode auch in
tiefere Regionen meines … hmm … Denkens? Bewußtseins? Da kann es schon
geschehen, daß ich mehr von mir preisgebe, als ich vorhatte. Darum auch oft in
getarnter Form.
Diese Nacht-Morgen-Texte fangen meistens ohne jede Idee an.
Ich schlage mein Notizbuch mit Griffel in der Hand und die Lesebrille
aufgesetzt auf und schaue auf das leere Blatt, … dann im Zimmer herum … ja,
meistens beginnen die so.
Dann gibt’s die Kaffeehaustexte und ein paar aus der freien
Natur oder von irgendwo in der Stadt auf einer Bank. Die beginnen immer damit,
daß ich herumschaue und irgendetwas zu beschreiben anfange. Die Assoziationen
können mich dann wieder wer-weiß-wohin tragen. Das sind dann manchmal fast zwei
übereinandergelagerte Wirklichkeiten, die ich schildere. Ob sie wirklich
getrennt sind oder nur zwei Blickwinkel auf ein und dieselbe Wirklichkeit, das
sei dahin gestellt.
Es gibt auch Texte, an deren Beginn eine Idee steht; eine
Idee, die mir irgendwann, irgendwo gekommen ist und wo ich gedacht habe, das
oder darüber könnte ich schreiben. Auch da können mich meine Assoziationsketten
und Sprachspielereien weit davon abtragen. Ja, überhaupt: immer wieder gerät
mir die Sprache selber, ausgelöst etwa durch ein plötzlich fremd klingendes Wort,
eine Redewendung ins Blickfeld und mein Geist fängt dann an, mit ihr
herumzuspielen. Weil ich alles zuerst händisch in mein Notizbuch schreibe und
nachher erst in den Computer, wo ich den Text fast immer überarbeite, ergeben
sich wieder neue Assoziationen, Kommentare zum Text (meistens in Klammern),
fällt mir etwas an der Sprache, bei den Formulierungen, Redewendungen auf.
Dieses computerunterstützte Überarbeiten
(manchmal schaue ich in Wikipedia nach oder googel etwas, wobei ich aber immer
ein Fremdwörterlexikon und – wichtig! - ein veraltetes Österreichisches
Wörterbuch neben mir liegen habe und benutze), diese zweite Überarbeitung am
Computer kann ein paar Stunden nach der Handschrift (klingt toll!) stattfinden,
oder ein bis mehrere Tage. (Erstes Datum unter dem Text: erster Tag, zweites:
letzter Tag) (Zu lange soll's nicht sein, sonst kann ich meine Handschrift
nicht mehr lesen.)
Es kommt auch immer wieder vor, daß ich Abendtexte mit in
den Schlaf nehme und mein schlafendes und träumendes Bewußtsein damit
weiterarbeitet. In Träumen und gleich nach dem Aufwachen fallen mir dann viele
Ergänzungen, Vertiefungen, Verbesserungen, neue Sätze ein, die ich aber schnell
wieder vergesse, wenn ich es nicht schaffe, sie sofort aufzuschreiben. Die
können dann sehr nüchtern sein, wie eine gründlichere Reflexion über das Thema,
eine genauere Erinnerung, oder traumgetrieben in absurden Assoziationssprüngen
weiterlaufen, wobei beide Varianten – wie ich glaube – sehr wertvolle Sätze
hergeben können.
Das kann ich abschließend sagen: ganz gleich welchen Text,
gleich in welchem Kontext (!), in welcher Stimmung (a, b, c oder h Tour –
kleiner Scherz) ich schreibe – wenn mir eine Formulierung gelingt, macht mich
das glücklich. Ich liebe es wirklich, zu formulieren.
P.S.: dieser Text ist aus einer Idee entstanden. Ich wollte
einen lustigen Dialog zwischen einem Autor und einer Leserin schreiben, mit
vielen gegenseitigen, wohlwollenden Mißverständnissen und gegenseitigen
Projektionen. Als ich dann – schon reichlich spät – zu schreiben begonnen
hatte, war ich bereits recht müde und wußte nicht recht, wie beginnen. Dann hat
es mich eben bis hierher abgetragen, wo das ganze Werk nun niemals nicht ein
Dialog ist, auch kein echter Brief mehr, sondern ein Monolog, wo ich mich
wiedereinmal selber erkläre. Weil in dem Augenblick, wo ich zu schreiben
anfange, eine Dynamik einsetzt, die mich selber immer wieder erstaunt, und die
mich – so ich dranbleibe – garantiert irgendwo hinbringt. Es kommt mir vor, als
stellte ich mich in einen starken Fluß und lasse mich dann von seiner Strömung
davontragen.
(1./2.3.2017)
©Peter Alois Rumpf März
2017 peteraloisrumpf@gmail.com
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