Donnerstag, 2. März 2017

613 Brief an meine LeserInnen

(bei einer Lesung würde ich die Überschrift so aussprechen: „Brief an meine Leserinnen“, und dann: „oder: Brief an meine Leser – innen!“.)


Liebe Leserinnen und Leser. Wenn ihr meine Texte lest, wie ist das für euch? Natürlich, ganz verschieden; für die eine so, für den anderen so. Und auch nicht an jedem Tag gleich. Oder am Morgen vielleicht anders als am Abend. Gut, am Morgen werden nicht allzuviele Zeit haben. Ich vermute, es wird eher abends gelesen – da müßte ich eine empirische Leserbefragung machen. Kleiner Scherz! Ihr wißt schon, Selbstironie, weil ich in einem Callcenter für empirische Sozialforschung mein Brot verdiene. Egal.

Aber was spielt sich in euch innen ab? Auch je nach Text verschieden. Ach! … Anders!

Also bei mir spielt sich beim Schreiben ganz Unterschiedliches ab, je nachdem. Wenn ich eine wirkliche Geschichte etwa aus meiner Kindheit erzähle, begleiten mich oft starke Gefühle wie zum Beispiel Trauer. Wieweit das mit Selbstmitleid zu tun hat, weiß ich nicht. (Das müßte man dem Texten anmerken.) (Beinahe reizt es mich – schlampig, aber wen denn! Nestroy? Raimund? - zu zitieren: „es ist ewig schad um mich“.) Da bin ich sehr bemüht, nüchtern und diszipliniert zu schreiben, weil ich dabei immer wieder sehr unsicher und aufgeregt werde, wenn es sich um einen für mich brisanten Inhalt handelt. Jedenfalls versuche ich in Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit der Wahrheit des Geschehens gerecht zu werden. Was nicht heißt, daß mich starke Emotionen nicht doch mitreißen können. Ich hatte oft große Hemmungen, solche intime Dinge preiszugeben, aber das Bedürfnis, endlich – vor meinem Lebensende – davon zu erzählen - und sei es sozusagen in eine imaginierte Zuhörerschaft hinaus – und es damit auch ein wenig loszuwerden, war dann fast  immer doch stärker. (Ein paar Sachen gibt es noch, die ich bis jetzt noch nicht erzählen konnte.)

Die Erzählungen aus meiner Grazer Zeit waren meistens von innerem Lachen begleitet. Wenn ich mich bei meinen ersten Schritten in der mir komplett fremden Welt sehe, völlig unvorbereitet und im Stich gelassen, gibt es viel Schmerz und Trauer dazu, aber dennoch, das Lachen über meine Eskapaden und die Freude über die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Anstöße überwiegen, trotz aller Irrwege und Verzweiflungen.

Bei den Erzählungen über meine Begegnungen mit dem Astrologen Döbereiner begleiteten mich oft Trauer, Zorn. Und Entsetzen, daß ich mich einem Menschen, seiner Wut und seinen Verurteilungen so ausliefern konnte; schließlich habe ich mich ja freiwillig da hineinbegeben. Aber ich staune dabei immer noch über Gebäude seiner Münchner Rhythmenlehre.

Wenn ich „Betrachtungstexte“ - das sind die, die ich im Bett vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen fabriziere – schreibe, horche ich oft in mich hinein, was sich so zeige, welche Erinnerungen, Bilder, Gedanken und Assoziationen auftauchen. Oder ich achte darauf, was sich in meinem Körper abspielt, oder ich blicke auf meine Umgebung – was sticht mir ins Auge und was löst es aus? Wo bleiben meine weidenden Augen hängen? Das ist dann in meinem Zimmer vergleichsweise nicht so viel, obwohl es mir erst durchs Schreiben bewußt geworden ist, wie viel in meiner Kammer da ist und wie verschieden ich es wahrnehmen und fühlen kann, anders am Abend als am Morgen, in der Nacht als am Tag, bei unterschiedlichem Licht und Stimmungspegel und so weiter.
Bei diesen Texten bin ich viel spielerischer und bin ganz vergnügt, wenn mir soetwas wie ein Gag, eine Pointe einfällt. Ja, ich freue mich regelrecht, wenn ich euch, liebe Leserinnen und Leser, ein wenig an der Nase herumführen kann, wenn ich etwas hinter irreführenden Beschreibungen, Bezeichnungen und Überschriften verstecken kann – schon mit der unterschwelligen Aufforderung, mit mir ein wenig hide and seek zu spielen – oder wenn ich etwas gewollt umständlich beschreibe, oder kleine Überraschungen platziere, indem ich besonders altmodische Wörter und Wortformen (Konjunktiv!) in einen „normalen“ Text einbaue oder extrem dialektale (fast hätte ich geschrieben: dialektische) oder grenzwertige in erhabener formulierten Passagen. Oder das Spiel mit neuer und alter Rechtschreibung, mit Worterfindungen, Wortungetümen, falsch frisierten Redewendungen, schrägen Metaphern, lautliche Wiederholungen, Umkreisungen und so fort – da denke und ziele ich bewußt an und auf meine LeserInnen (oder mit grammatisch fragwürdigen Satzkonstruktionen, Zeichensetzungen); das alles will euch ein wenig aufrütteln – nein, das ist zu viel gesagt – berühren – nein, das ist zu intim – anrühren – detto – anklopfen vielleicht; ich klopfe an, eh meistens freundlich grinsend (Hmmmm … ich weiß nicht recht …). (Ihr kennt eh das Sprichwort, „was sich liebt, das neckt sich“.) Und ich kichere dabei, meist innerlich. Nun, nicht vergessen, ihr seid für mich zum allergrößten Teil (welch eine Übertreibung!) sehr abstrakt, imaginär. Ich spreche dabei sozusagen das Universum an (wieder eine Übertreibung!). Obwohl: „an der Grenze meiner Endlichkeit beginnt meine Unendlichkeit.“ (Ist das ein Döbereinersatz? Ich glaube schon, genau weiß ich es nicht mehr.) (Das „mein“ bei der Unendlichkeit nicht in dem Sinn, daß die mir gehört, sondern daß es um den Teil, um die Seite derselben geht, der, die für mich zuständig ist. Mein Zugang, sozusagen. Genug abgeschwiffen.)
(Bei dieser Schreiberei komme ich mir wie ein Sprachalchimist vor; das sage ich im vollen Wissen, daß die nie das Gold gefunden haben; allerdings haben sie sehr viel anderes entdeckt.)

Manchmal führt mich diese Einschlaf-Aufwach-Methode auch in tiefere Regionen meines … hmm … Denkens? Bewußtseins? Da kann es schon geschehen, daß ich mehr von mir preisgebe, als ich vorhatte. Darum auch oft in getarnter Form.
Diese Nacht-Morgen-Texte fangen meistens ohne jede Idee an. Ich schlage mein Notizbuch mit Griffel in der Hand und die Lesebrille aufgesetzt auf und schaue auf das leere Blatt, … dann im Zimmer herum … ja, meistens beginnen die so.

Dann gibt’s die Kaffeehaustexte und ein paar aus der freien Natur oder von irgendwo in der Stadt auf einer Bank. Die beginnen immer damit, daß ich herumschaue und irgendetwas zu beschreiben anfange. Die Assoziationen können mich dann wieder wer-weiß-wohin tragen. Das sind dann manchmal fast zwei übereinandergelagerte Wirklichkeiten, die ich schildere. Ob sie wirklich getrennt sind oder nur zwei Blickwinkel auf ein und dieselbe Wirklichkeit, das sei dahin gestellt.

Es gibt auch Texte, an deren Beginn eine Idee steht; eine Idee, die mir irgendwann, irgendwo gekommen ist und wo ich gedacht habe, das oder darüber könnte ich schreiben. Auch da können mich meine Assoziationsketten und Sprachspielereien weit davon abtragen. Ja, überhaupt: immer wieder gerät mir die Sprache selber, ausgelöst etwa durch ein plötzlich fremd klingendes Wort, eine Redewendung ins Blickfeld und mein Geist fängt dann an, mit ihr herumzuspielen. Weil ich alles zuerst händisch in mein Notizbuch schreibe und nachher erst in den Computer, wo ich den Text fast immer überarbeite, ergeben sich wieder neue Assoziationen, Kommentare zum Text (meistens in Klammern), fällt mir etwas an der Sprache, bei den Formulierungen, Redewendungen auf. Dieses computerunterstützte  Überarbeiten (manchmal schaue ich in Wikipedia nach oder googel etwas, wobei ich aber immer ein Fremdwörterlexikon und – wichtig! - ein veraltetes Österreichisches Wörterbuch neben mir liegen habe und benutze), diese zweite Überarbeitung am Computer kann ein paar Stunden nach der Handschrift (klingt toll!) stattfinden, oder ein bis mehrere Tage. (Erstes Datum unter dem Text: erster Tag, zweites: letzter Tag) (Zu lange soll's nicht sein, sonst kann ich meine Handschrift nicht mehr lesen.)

Es kommt auch immer wieder vor, daß ich Abendtexte mit in den Schlaf nehme und mein schlafendes und träumendes Bewußtsein damit weiterarbeitet. In Träumen und gleich nach dem Aufwachen fallen mir dann viele Ergänzungen, Vertiefungen, Verbesserungen, neue Sätze ein, die ich aber schnell wieder vergesse, wenn ich es nicht schaffe, sie sofort aufzuschreiben. Die können dann sehr nüchtern sein, wie eine gründlichere Reflexion über das Thema, eine genauere Erinnerung, oder traumgetrieben in absurden Assoziationssprüngen weiterlaufen, wobei beide Varianten – wie ich glaube – sehr wertvolle Sätze hergeben können.

Das kann ich abschließend sagen: ganz gleich welchen Text, gleich in welchem Kontext (!), in welcher Stimmung (a, b, c oder h Tour – kleiner Scherz) ich schreibe – wenn mir eine Formulierung gelingt, macht mich das glücklich. Ich liebe es wirklich, zu formulieren.


P.S.: dieser Text ist aus einer Idee entstanden. Ich wollte einen lustigen Dialog zwischen einem Autor und einer Leserin schreiben, mit vielen gegenseitigen, wohlwollenden Mißverständnissen und gegenseitigen Projektionen. Als ich dann – schon reichlich spät – zu schreiben begonnen hatte, war ich bereits recht müde und wußte nicht recht, wie beginnen. Dann hat es mich eben bis hierher abgetragen, wo das ganze Werk nun niemals nicht ein Dialog ist, auch kein echter Brief mehr, sondern ein Monolog, wo ich mich wiedereinmal selber erkläre. Weil in dem Augenblick, wo ich zu schreiben anfange, eine Dynamik einsetzt, die mich selber immer wieder erstaunt, und die mich – so ich dranbleibe – garantiert irgendwo hinbringt. Es kommt mir vor, als stellte ich mich in einen starken Fluß und lasse mich dann von seiner Strömung davontragen.




(1./2.3.2017)














©Peter Alois Rumpf    März 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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