Freitag, 17. Februar 2017

603 Ich bin in den Untergrund gegangen

Ich bin in den Untergrund gegangen. Ich bin in die Virgilkapelle unter dem Stephansplatz hinuntergestiegen. (Wenn mir kein Titel einfällt, mache ich es wie die Päpste: ich nehme die ersten Wörter als Überschrift. Wie Gaudium et Spes zum Beispiel.) In einem (fragwürdigen?) Buch ist gestanden, hier wäre einer der stärksten Kraftplätze der Welt. Keine Ahnung! Daß es Kraftplätze gibt, Orte, wo besondere Energieströme zusammenfließen, bezweifle ich nicht. Ob das hier zutrifft, weiß und spüre ich nicht. (Umgekehrt wäre richtiger: spüre ich nicht und deshalb weiß ich es nicht.)

Ich schaue mich noch gar nicht richtig um. Ich bin der einzige Besucher. Ich sitze auf einer freistehenden Bank und habe den Rucksack noch umgeschnallt. Nachdem ich mein Notizbuch herausgenommen habe, ist er so gut wie leer, nur ein paar Packungen Taschentücher und Stifte und sonstiges Schreibzeug. Wahrscheinlich auch ein paar vergessene Zetteln – Rechnungen oder Notizen oder beides gleichzeitig in einem.

Ich drehe mich zur Ostwand, zur Apsis, zu einem noch halbwegs erkennbaren Radkreuz. Hier in dieser Kapelle gibt es nur Reste der schlichten, in roten Linien ausgeführten Wandmalerei, sonst nichts, aber das tut – so empfinde ich es – der Wirkung des Raumes keinen Abbruch.
Ich schiebe die Lesebrille nach oben über die Stirn, um besser herumschauen zu können; wenn ich das tue komme ich mir immer wie ein Angeber vor.

Das indirekte Licht hebt mit seinen Schatten die vielen Schrunden und Wunden der verletzten Mauern hervor. An manchen Stellen blüht – ich glaube es ist der Kalk aus. Es ist eine unfertige Kapelle, mehrmals schon umgebaut im Lauf der Jahrhunderte. Vielleicht mag ich deshalb diesen Ort. Oder ich bilde es mir ein. So genau weiß ich das bei mir nicht. Jedenfalls bin ich hier um  abzuwarten, was in mir hochkommt.

Ich schaue auf diese erstaunlichen Wände wie auf eine aufgestellte Landschaft, von hoch oben sozusagen, auf ein wüstes Hochplateau, von wilden Furchen durchzogen und mit vielen Löchern übersät.
Und dieses Auge, dieses eine rote Auge, in roter Farbe gezeichnet, das zweite mit dem Verputz abgefallen, vom Gesicht ist sonst kaum mehr etwas übrig geblieben.

Die verletzten Wände. Wird da etwas herausgeschrien aus den verwundeten Mauern? Jetzt höre ich nur die Videoguides der gerade herabgestiegenen Touristen.

Ich stehe auf und gehe ein wenig in den Nischen herum. Die harte Sitzfläche ist mir schon etwas unbequem. Viel Platz ist in der Kapelle nicht.

Man könnte das auch lächerlich finden, andächtig diese ziemlich hinigen, gut ausgeleuchteten Mauern anzugaffen wie abstrakte Kunstwerke. Arte povera.

Ich stehe vor einer Wand  und starre sie mit unkonzentriertem Blick an. Plötzlich rückt dieser Blick ein Stück tiefer in die Wand hinein und es ist, als schaute ich wirklich in eine fremde, faszinierende Welt. Ich schaue in eine fremde, faszinierende Welt, besonders die Schatten bekommen eine unglaubliche, fast dunkel leuchtende Intensität.

Jetzt ist der Aufseher, der erst vorhin mit der Touristengruppe heruntergekommen ist, auf mich aufmerksam geworden – so kommt es mir vor – und er stellt sich in meine Nähe. Mein erster Gedanke ist, er will sichergehen, daß ich mit dem Kugelschreiber nicht die Wand bekritzle oder sonst ein Attentat ausübe. Das kann freilich auch - nicht unwahrscheinlich - eine Unterstellung sein, aber so erlebe ich die Welt. Diese Unterstellung bewirkt, daß ich mich unwohl zu fühlen beginne und ans Weggehen denke.

Mir fällt jetzt ein, daß ich vor Jahrzehnten einmal den Pfarrer meiner damaligen Wohnsitzpfarre gebeten hatte, die Nacht in einer Kapelle verbringen zu dürfen; eine Kapelle für kleine Gottesdienste mit dem Allerheiligstentabernakel und dem anwesenden Leib Christi. Das war in meiner Zeit, als ich verzweifelt wieder zur Kirche zurückfinden wollte. Ich habe dabei an Samuel im Alten Testament und seinen Tempelschlaf gedacht, wo ihn der Herr mehrmals beim Namen ruft und er davon aufwacht. Das war der Einstieg in seine Berufungs- oder Initiationsvision. Jahre früher hatte ich ein ähnliches Erlebnis, nur daß die Stimme bei mir weiblich war und mich mit flehentlichem Unterton gerufen hat. Ich hatte aber nicht weiter gewußt.
Gerade wegen dieses Traumerlebnisses wollte ich hier jetzt auf diese Weise versuchen, Christus zu fragen, ob er mit mir irgendetwas vorhat, ob er mich in der Kirche oder sonstwo brauchen kann.
Der junge Pfarrer hat geantwortet, daß er da noch ein paar Tage überlegen muß, ob er mir das erlauben könne und sich dabei mit anderen beraten. Ich war dort in der Gemeinde ja tatsächlich ein Fremdkörper und habe überhaupt nicht in die Gemeinschaft gepasst. Nach ein paar Tagen hat der Pfarrer meine Bitte abschlägig beantwortet. Ich habe das sofort verstanden und akzeptiert; traurig zwar, aber ich habe eingesehen, daß das nicht geht.
Warum eigentlich? Ich habe ja nichts Böses vorgehabt, und man hätte mich dort auch einsperren können – das habe ich sogar vorgeschlagen; Toilette und Wasser zum Trinken hätte es gegeben. Das wäre kein Problem gewesen.

Noch etwas fällt mir ein. Noch länger her, Ende der Siebzigerjahre, da habe ich mich um eine Arbeit in einer Fabrik beworben, es waren Stellen für Arbeiter ausgeschrieben. Ich hatte gerade meine „linke“ Zeit hinter mich gelassen und meine Studien abgebrochen. Ich brauchte wirklich bloß Arbeit und Einkommen. Der Personalchef hat mich nicht genommen, weil er hier – wie er mir im Bewerbungsgespräch erklärte – keine Leute wie Gratt, Keplinger und Pitsch brauchen könne. Das waren hier in Österreich Mitglieder der terroristischen Bewegung 2. Juni, die einen Unterwäscheindustriellen entführt hatten. Anscheinend hatte der Personalchef befürchtet, ich wolle die Arbeiter missionieren und radikalisieren und plane Anschläge oder Entführungen. Oh Gott! Weit gefehlt! Ich wollte doch nur einen Arbeitsplatz und ein Auskommen finden. Aber auch da habe ich bei der Unterstellung bloß genickt und „alles verstanden“.

Ich nehme jede Unterstellung an und fühle mich sofort schuldig. Und ich rücke sie nicht zurecht. Hier habe ich mich tatsächlich gleich wie ein potentieller Terrorist gefühlt, nur weil ich vorher mit Links sympathisiert hatte. Nein, ich nicke ergeben und rücke das nicht zurecht.

(Hier zum Beispiel etwa: „Ja, Herr Personalchef, Sie haben recht, ich war vor nicht allzulanger Zeit noch sehr links unterwegs. Aber ich habe keine politischen Verbrechen begangen und habe das Ganze in einem zähen und ernüchternden Kampf abgeschüttelt und will nichts mehr mit Ideologien zu tun haben. Ich habe meine Studien abgebrochen und bin von meinem hohen Roß, das wohl nicht viel mehr als ein Steckenpferd war, herabgestiegen und will mein Leben in Ordnung bringen. Auf ganz normale Art. Ich will mit normaler Arbeit meinen Lebensunterhalt verdienen und ein bescheidenes Leben führen. Trotz meiner linken Attitüden vor ein paar Jahren bin ich im Grunde ein gehorsamer, braver und verlässlicher Arbeiter – vorausgesetzt, ich bin körperlich und handwerklich in der Lage, die aufgetragene Arbeit zu verrichten. In dieser Molkerei hier am Fließband sollte sich das ausgehen. Für eine Aufhetzung der Arbeiter bin ich viel zu ängstlich und schüchtern und für einen Terroranschlag oder eine Entführung – wenn ich sie wollte – wäre ich viel zu nervös und ungeschickt. Nein, ich wäre ein Arbeiter, der froh ist, daß er eine Arbeit gefunden hat und dankbar, wenn er dafür bezahlt wird und sein Auskommen findet.“)

Der Aufseher ist mit den Touristen wieder gegangen. Also hat meine Vermutung nicht gestimmt und meine Gedanken waren Unterstellungen. Trotzdem werde ich bald gehen.

Jetzt, wo ich aufstehe, mein Schreibzeug im Rucksack verstaue, merke ich, der Aufseher lehnt am oberen Ende der Wendeltreppe und beobachtet mich. Also vielleicht doch keine Unterstellung.
Es ist mir jedoch auch unangenehm, daß er wegen mir da stehen und mich im Auge behalten muß. Der Gedanke, daß das sein Job ist, hilft mir nichts. Es ist mir dennoch unangenehm. Er muß jetzt wegen mir Trottel da herumstehen und kann sich nicht gemütlich im Kassaraum hinsetzen. Es ist richtig, daß ich gehe.

Ich gehe. Ich schlendere in der Stadt herum und kehre in ein Kaffeehaus ein, lese Zeitungen, schreibe, esse und schaue in die Luft. Ich gönne mir eine Droge in Form einer Wiener Melanche.
Jetzt kommt ein ganzer Schwall Besucher ins Kaffeehaus und sucht Plätze. Sofort werde ich unruhig, weil ich das Gefühl habe, ich nehme ihnen den Platz weg. Ich rufe schüchtern und devot und mit vorsichtig aufzeigender linker Hand dem Kellner „zahlen!“ zu – nicht ohne zu betonen, daß er erst kommen möge, wenn es sich für ihn ausgeht.

Dann zahle ich, gebe reichlich Trinkgeld und gehe. Ich rufe im Hinausgehen noch „auf Wiedersehen!“, das in dem ganzen Wirbel da sang und klanglos untergeht.





(17.2.2017)












©Peter Alois Rumpf    Februar 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite