603 Ich bin in den Untergrund gegangen
Ich bin in den Untergrund gegangen. Ich bin in die
Virgilkapelle unter dem Stephansplatz hinuntergestiegen. (Wenn mir kein Titel
einfällt, mache ich es wie die Päpste: ich nehme die ersten Wörter als
Überschrift. Wie Gaudium et Spes zum Beispiel.) In einem (fragwürdigen?) Buch
ist gestanden, hier wäre einer der stärksten Kraftplätze der Welt. Keine
Ahnung! Daß es Kraftplätze gibt, Orte, wo besondere Energieströme
zusammenfließen, bezweifle ich nicht. Ob das hier zutrifft, weiß und spüre ich
nicht. (Umgekehrt wäre richtiger: spüre ich nicht und deshalb weiß ich es
nicht.)
Ich schaue mich noch gar nicht richtig um. Ich bin der
einzige Besucher. Ich sitze auf einer freistehenden Bank und habe den Rucksack
noch umgeschnallt. Nachdem ich mein Notizbuch herausgenommen habe, ist er so
gut wie leer, nur ein paar Packungen Taschentücher und Stifte und sonstiges
Schreibzeug. Wahrscheinlich auch ein paar vergessene Zetteln – Rechnungen oder
Notizen oder beides gleichzeitig in einem.
Ich drehe mich zur Ostwand, zur Apsis, zu einem noch
halbwegs erkennbaren Radkreuz. Hier in dieser Kapelle gibt es nur Reste der
schlichten, in roten Linien ausgeführten Wandmalerei, sonst nichts, aber das
tut – so empfinde ich es – der Wirkung des Raumes keinen Abbruch.
Ich schiebe die Lesebrille nach oben über die Stirn, um
besser herumschauen zu können; wenn ich das tue komme ich mir immer wie ein
Angeber vor.
Das indirekte Licht hebt mit seinen Schatten die vielen
Schrunden und Wunden der verletzten Mauern hervor. An manchen Stellen blüht –
ich glaube es ist der Kalk aus. Es ist eine unfertige Kapelle, mehrmals schon
umgebaut im Lauf der Jahrhunderte. Vielleicht mag ich deshalb diesen Ort. Oder
ich bilde es mir ein. So genau weiß ich das bei mir nicht. Jedenfalls bin ich
hier um abzuwarten, was in mir
hochkommt.
Ich schaue auf diese erstaunlichen Wände wie auf eine
aufgestellte Landschaft, von hoch oben sozusagen, auf ein wüstes Hochplateau,
von wilden Furchen durchzogen und mit vielen Löchern übersät.
Und dieses Auge, dieses eine rote Auge, in roter Farbe
gezeichnet, das zweite mit dem Verputz abgefallen, vom Gesicht ist sonst kaum
mehr etwas übrig geblieben.
Die verletzten Wände. Wird da etwas herausgeschrien aus den
verwundeten Mauern? Jetzt höre ich nur die Videoguides der gerade
herabgestiegenen Touristen.
Ich stehe auf und gehe ein wenig in den Nischen herum. Die
harte Sitzfläche ist mir schon etwas unbequem. Viel Platz ist in der
Kapelle nicht.
Man könnte das auch lächerlich finden, andächtig diese
ziemlich hinigen, gut ausgeleuchteten Mauern anzugaffen wie abstrakte
Kunstwerke. Arte povera.
Ich stehe vor einer Wand
und starre sie mit unkonzentriertem Blick an. Plötzlich rückt dieser
Blick ein Stück tiefer in die Wand hinein und es ist, als schaute ich wirklich
in eine fremde, faszinierende Welt. Ich schaue in eine fremde,
faszinierende Welt, besonders die Schatten bekommen eine unglaubliche, fast
dunkel leuchtende Intensität.
Jetzt ist der Aufseher, der erst vorhin mit der
Touristengruppe heruntergekommen ist, auf mich aufmerksam geworden – so kommt
es mir vor – und er stellt sich in meine Nähe. Mein erster Gedanke ist, er will
sichergehen, daß ich mit dem Kugelschreiber nicht die Wand bekritzle oder sonst
ein Attentat ausübe. Das kann freilich auch - nicht unwahrscheinlich - eine
Unterstellung sein, aber so erlebe ich die Welt. Diese Unterstellung bewirkt,
daß ich mich unwohl zu fühlen beginne und ans Weggehen denke.
Mir fällt jetzt ein, daß ich vor Jahrzehnten einmal den
Pfarrer meiner damaligen Wohnsitzpfarre gebeten hatte, die Nacht in einer
Kapelle verbringen zu dürfen; eine Kapelle für kleine Gottesdienste mit dem
Allerheiligstentabernakel und dem anwesenden Leib Christi. Das war in meiner
Zeit, als ich verzweifelt wieder zur Kirche zurückfinden wollte. Ich habe dabei
an Samuel im Alten Testament und seinen Tempelschlaf gedacht, wo ihn der Herr
mehrmals beim Namen ruft und er davon aufwacht. Das war der Einstieg in seine
Berufungs- oder Initiationsvision. Jahre früher hatte ich ein ähnliches
Erlebnis, nur daß die Stimme bei mir weiblich war und mich mit flehentlichem
Unterton gerufen hat. Ich hatte aber nicht weiter gewußt.
Gerade wegen dieses Traumerlebnisses wollte ich hier jetzt auf
diese Weise versuchen, Christus zu fragen, ob er mit mir irgendetwas vorhat, ob
er mich in der Kirche oder sonstwo brauchen kann.
Der junge Pfarrer hat geantwortet, daß er da noch ein paar
Tage überlegen muß, ob er mir das erlauben könne und sich dabei mit anderen
beraten. Ich war dort in der Gemeinde ja tatsächlich ein Fremdkörper und habe
überhaupt nicht in die Gemeinschaft gepasst. Nach ein paar Tagen hat der
Pfarrer meine Bitte abschlägig beantwortet. Ich habe das sofort verstanden und
akzeptiert; traurig zwar, aber ich habe eingesehen, daß das nicht geht.
Warum eigentlich? Ich habe ja nichts Böses vorgehabt, und
man hätte mich dort auch einsperren können – das habe ich sogar vorgeschlagen;
Toilette und Wasser zum Trinken hätte es gegeben. Das wäre kein Problem
gewesen.
Noch etwas fällt mir ein. Noch länger her, Ende der
Siebzigerjahre, da habe ich mich um eine Arbeit in einer Fabrik beworben, es
waren Stellen für Arbeiter ausgeschrieben. Ich hatte gerade meine „linke“ Zeit
hinter mich gelassen und meine Studien abgebrochen. Ich brauchte wirklich bloß
Arbeit und Einkommen. Der Personalchef hat mich nicht genommen, weil er hier –
wie er mir im Bewerbungsgespräch erklärte – keine Leute wie Gratt, Keplinger
und Pitsch brauchen könne. Das waren hier in Österreich Mitglieder der
terroristischen Bewegung 2. Juni, die einen Unterwäscheindustriellen entführt
hatten. Anscheinend hatte der Personalchef befürchtet, ich wolle die Arbeiter
missionieren und radikalisieren und plane Anschläge oder Entführungen. Oh Gott!
Weit gefehlt! Ich wollte doch nur einen Arbeitsplatz und ein Auskommen finden.
Aber auch da habe ich bei der Unterstellung bloß genickt und „alles
verstanden“.
Ich nehme jede Unterstellung an und fühle mich sofort
schuldig. Und ich rücke sie nicht zurecht. Hier habe ich mich tatsächlich
gleich wie ein potentieller Terrorist gefühlt, nur weil ich vorher mit Links
sympathisiert hatte. Nein, ich nicke ergeben und rücke das nicht zurecht.
(Hier zum Beispiel etwa: „Ja, Herr Personalchef, Sie haben
recht, ich war vor nicht allzulanger Zeit noch sehr links unterwegs. Aber ich
habe keine politischen Verbrechen begangen und habe das Ganze in einem zähen
und ernüchternden Kampf abgeschüttelt und will nichts mehr mit Ideologien zu
tun haben. Ich habe meine Studien abgebrochen und bin von meinem hohen Roß, das
wohl nicht viel mehr als ein Steckenpferd war, herabgestiegen und will mein
Leben in Ordnung bringen. Auf ganz normale Art. Ich will mit normaler Arbeit
meinen Lebensunterhalt verdienen und ein bescheidenes Leben führen. Trotz
meiner linken Attitüden vor ein paar Jahren bin ich im Grunde ein gehorsamer,
braver und verlässlicher Arbeiter – vorausgesetzt, ich bin körperlich und
handwerklich in der Lage, die aufgetragene Arbeit zu verrichten. In dieser
Molkerei hier am Fließband sollte sich das ausgehen. Für eine Aufhetzung der
Arbeiter bin ich viel zu ängstlich und schüchtern und für einen Terroranschlag
oder eine Entführung – wenn ich sie wollte – wäre ich viel zu nervös und
ungeschickt. Nein, ich wäre ein Arbeiter, der froh ist, daß er eine Arbeit
gefunden hat und dankbar, wenn er dafür bezahlt wird und sein Auskommen
findet.“)
Der Aufseher ist mit den Touristen wieder gegangen. Also hat
meine Vermutung nicht gestimmt und meine Gedanken waren Unterstellungen.
Trotzdem werde ich bald gehen.
Jetzt, wo ich aufstehe, mein Schreibzeug im Rucksack
verstaue, merke ich, der Aufseher lehnt am oberen Ende der Wendeltreppe und
beobachtet mich. Also vielleicht doch keine Unterstellung.
Es ist mir jedoch auch unangenehm, daß er wegen mir da
stehen und mich im Auge behalten muß. Der Gedanke, daß das sein Job ist, hilft
mir nichts. Es ist mir dennoch unangenehm. Er muß jetzt wegen mir Trottel da
herumstehen und kann sich nicht gemütlich im Kassaraum hinsetzen. Es ist
richtig, daß ich gehe.
Ich gehe. Ich schlendere in der Stadt herum und kehre in ein
Kaffeehaus ein, lese Zeitungen, schreibe, esse und schaue in die Luft. Ich
gönne mir eine Droge in Form einer Wiener Melanche.
Jetzt kommt ein ganzer Schwall Besucher ins Kaffeehaus und
sucht Plätze. Sofort werde ich unruhig, weil ich das Gefühl habe, ich nehme
ihnen den Platz weg. Ich rufe schüchtern und devot und mit vorsichtig
aufzeigender linker Hand dem Kellner „zahlen!“ zu – nicht ohne zu betonen, daß
er erst kommen möge, wenn es sich für ihn ausgeht.
Dann zahle ich, gebe reichlich Trinkgeld und gehe. Ich rufe
im Hinausgehen noch „auf Wiedersehen!“, das in dem ganzen Wirbel da sang und
klanglos untergeht.
(17.2.2017)
©Peter Alois Rumpf Februar
2017 peteraloisrumpf@gmail.com
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