538 Mein Wecker geht pro Tag fünf Minuten vor
Abend. Nacht. Dazwischen ist nichts passiert. Nichts
Schriftliches.
Jetzt geschieht auch nichts. Hier. Zumindest nichts, was ich
als beschreibungsfähig wahrnehme. Wobei dies ja auch eine Frage der
Interpretation ist. Oder so ähnlich.
Ich meine, mein Herz klopft – zum Beispiel. Und was passiert
alles, ohne daß ich es merke? Rundherum oder in mir? Irgendwelche Zellen
arbeiten wie verrückt herum und verhindern gerade noch irgendwas, oder arbeiten
ganz normal oder umgekehrt.
Oder im angrenzenden Haus. Irgendwer wälzt sich schlaflos im
Bett, oder schreibt Briefe (analog oder digital), telefoniert, hm … oder
umgekehrt: das Bett wälzt sich herum – ja, ja, ich weiß – äußerst
unwahrscheinlich, aber was weiß ich schon, was zwischen Himmel und Erde alles
möglich ist!? Jetzt zum Beispiel höre ich Schritte, und kaum sind sie
verklungen, geht im Lichtschacht die Lüftung los. Das ist doch was!
Einige werden schlafen, und wieviele anorganische
Kundschafter gehen in ihren Träumen ein und aus?
Staubmilben zum Beispiel, zwei lieben sich gerade und zeugen
Nachkommen. Könnte ja sein, ich weiß doch nicht, ob und wann die Paarungszeiten
haben.
Elektronen kreisen. Kräfte wirken.
Das Lüftungsgeheule hat soeben aufgehört, aber was machen
die Luftschwingungen jetzt? Sind die heim gegangen? Und wo wohnen sie?
Oder wieviele Zellen meines Körpers beschäftigt meine
aufkommende Weihnachtsstimmung? Oder umgekehrt, wieviele Zellen lassen sich
nicht anstecken?
Was macht meine Leber gerade? Hat sie Dienst?
Oder warum geht mein Wecker immer vor? Wer hat das
veranlaßt? Und was alles passieren mußte, daß genau dieser Wecker, hier bei
mir, vor geht!? Meine Eltern mußten mich zum genau richtigen Zeitpunkt gezeugt
haben, dieses Sperma, diese Eizelle, genau diese Genmischung (hauptsächlich
slawisch, germanisch, keltisch). Die Fabrik, die den Wecker produziert hat, die
ArbeiterInnen, ihre Zeugung, der psychologische und soziologische Hintergrund,
der Techniker, der Ingenieur – inklusive Zeugung und dem ganzen Pipapo, die
ganzen Generationen vor uns, die das alles aufgebaut haben, das richtige
Luftgemisch, das auf unserem Planeten entstehen mußte, damit hier Leben möglich
ist, der Meteoreinschlag, der die Dinosaurier erledigt hat. Die richtigen
Materialien, daß Wecker hergestellt werden können, das richtige Klima, nicht zu
heiß, nicht zu kalt; überhaupt: der Urknall!
Das alles, damit hier und jetzt – und schon seit längerer
Zeit – und ich wage die Prognose – noch länger in Zukunft – mein Wecker pro Tag
um fünf Minuten vor geht!
Die Batterien habe ich ganz vergessen; wer aller daran
gearbeitet hat; die Erfinder, ein jeder auf den Schultern seiner Vorgänger
stehend; die kosmischen und irdischen chemischen und physikalischen Prozesse.
Die psychologischen und soziologischen Entwicklungen, daß das Bedürfnis nach
Weckern entsteht. Also eine Nachfrage – ja, verdammt! Die Wirtschaft dahinter!
– die behauptet doch immer, daß sie die Grundlage für alles ist. Und zwar immer
schon! Die Wirtschaft des Urknalls, die Wirtschaft der Religionssysteme – ich
kann das jetzt nicht lückenlos ableiten, aber es ist evident, daß ohne
Klöster und ihre geregelten Zeiten für
das Stundengebet und ihre fabricae genannten Wirtschaftsgebäude weder das
Bedürfnis nach Weckern, noch die Fähigkeit, sie zu erzeugen, entstanden wären.
Meine Erziehung – familiär und gesellschaftlich, der ganze
psychologische Background, daß ich so geworden bin und nicht ein Winnertyp, der
entweder gleich bessere Wecker kauft respektive kaufen läßt oder falsch gehende
sofort ins Geschäft zurückbringt respektive zurückbringen läßt und auf
Schadenersatz klagt und außerdem noch eine Armada an Spitzenjuristen auf das
vor-gehende Wecker-verkaufende Geschäft jagt.
Ja und die Wissenschaft dahinter! Angefangen bei Lao Tse und
die Sumerer. Nein, noch viel früher!
Es ist einfach überwältigend!
Glücklich der Mensch, der einen Wecker hat, der pro Tag fünf
Minuten vor geht!
Ja nicht vergessen: der Rationalisierer in der Weckerfabrik,
der aus Einsparungsgründen vorgeschlagen hat, den früher bei Weckern üblichen
kleinen Schieber abzuschaffen, mit dem man/frau die Mechanik beschleunigen oder
verlangsamen konnte (+ -).
(15./16.12.2016)
©Peter Alois Rumpf
Dezember 2016
peteraloisrumpf@gmail.com
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