531 Die Schreibbrille ist verschmiert
Ich sitze wieder einmal vorm Luftballonherz. Schon länger
bin ich nicht mehr hierher gepilgert. Mein Weg hat heute zufällig
vorbeigeführt. Der Plan war, in ein Kaffeehaus einzukehren, aber die waren alle
überfüllt. Beim Café Central, also beim Trotzkij, beim Freud, Schnitzler, Altenberg, Zweig, Polgar,
Loos stehen sie Schlange mehrere Meter auf der Straße heraußen. Nicht zu
vergessen Friedell, Adler, Kuh, Hoffmannsthal, Kafka, Musil. Es ist viel los in
der Innenstadt, und auch hier in der U-Bahnstation, unter den Mosaiken von
Lehmden, die mir so gefallen. Die U-Bahnfahrerin brüllt genervt, weil die Leute
nicht zurücktreten. Massen sind unterwegs.
Meine Lese – und Schreibbrille ist verschmiert. Ich putze
sie. Ganz kurz ist es etwas ruhiger. Eine Frau auf der Nebenbank schließt für
ein paar Sekunden die Augen. Ich nehme an, sie sucht wie ich eine kleine Dosis
Innere Stille. Möglicherweise gelingt es ihr genausowenig wie mir. Ihr
erschöpfter Gesichtsausdruck läßt mich darauf schließen. Die nächste U-Bahn
kommt angedonnert. Und die nächste in der Gegenrichtung.
Viel rote Farbe ist vom Luftballonherz schon abgeblättert
und darunter kommt eine silbrige Farbe zum Vorschein. Aber es hängt noch da,
schon viele Monate, und schaukelt immer noch im Fahrtwind der U-Bahnzüge.
War das in der U-Bahn da nicht der Peter Henisch? Sofort
gebe ich ihm meine Karte mit dem Aufdruck www.dieschublade.at
– aber nur in meiner Phantasie. Ich sitze ja auf der Bank und raste mich aus;
ich bin ja gar nicht in die U-Bahn gestiegen, aber meine Phantasie ist immer
und immer noch pubertär oder bestenfalls infantil auf Rettung aus. Irgendwer
wird mich retten. Ich selber kann es nicht; ich traue es mir nicht zu. Der Mann
in der U-Bahn, es wird sicher nicht Peter Henisch gewesen sein. Fährt der
überhaupt U-Bahn? Oder geht er zu Fuß? Oder fährt er Rad oder Taxi? Sehen Sie –
ich habe keine Ahnung.
Ich habe auch einmal wochenlang die U-Bahn verweigert, weil
diese Verstärkerröhren nur das Ungute verstärken: die Hektik, den Stress, die
Aggression, den Lärm, das Geschrei – jetzt im Moment kurze Ruhe - ein alter
Mann – also noch älter als ich – liest auf der Nebenbank Zeitung – er scheint
es auch nicht eilig zu haben – jetzt ist sie wieder vorbei, die Ruhe – und als
ich dann nach zwei, drei Monaten wieder U-Bahn gefahren bin, war es ein Schock:
dieser Lärm! von allen Ansagen, Geräuschen, den knallenden Türen, dem
Anfahrtslärm gingen Aggression und Befehle aus; die Türöffner-
Türschließsignale, dieses alarmierende, aufgeregte Tüten (Alarm! Zu den
Waffen!), in den Zügen und in den Liften: alles Befehle und Scheuchen.
Eine Frau mit Fahrrad wird kaum Platz im überfüllten Waggon
finden, alle sind voll. „Steigen sie nicht mehr ein!“ jetzt in beiden
Fahrtrichtungen gleichzeitig. Die Ohren schmerzen. Die Frau hat doch Platz
gefunden.
Das Luftballonherz habe ich schon wieder vergessen. Ich
schaue hinauf und hege den Wunsch, daß ich damit auch jemanden anderen zum
Hinaufschauen animieren kann. (Heimlicher Größenwahn!) Aber das geschieht
nicht. Keiner schaut hinauf. Verständlich, was ist das schon. Ein
hängengebliebener Luftballon, der sich im Wind ein wenig dreht. Die Menschen um
mich starren auf ihre Smartphones, oder in eine Zeitung, schauen leer vor sich
hin, oder konzentriert, um irgendetwas Inneres zu fassen zu kriegen, oder
führen miteinander ihre Übereinstimmungsgespräche. Alles ganz normal. Genauso
nichts Besonderes wie alles andere auch. Auch in mir löst sich nichts. Ich
glaube, ich gehe weiter.
(9.12.2016)
©Peter Alois Rumpf Dezember
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
3 Kommentare:
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