Sonntag, 4. Dezember 2016

527 Kleiner Reisebericht

Heute habe ich mit meiner Tochter einen Ausflug nach Mariazell gemacht. Ich war noch nie in Mariazell und es hat mich auch nie besonders dorthin gezogen. Ich mag selbst die prachtvollen, reichen, in vollem Prunk ausstaffierten Barockkirchen nicht, 19. Jahrhundert schon gar nicht – sie kommen mir immer so unreligiös vor, so theatralisch, kein echtes Pathos (zum Beispiel für das Evangelium), nur ein vorgespieltes. Alles Theater sozusagen. Wobei es mir überhaupt nicht um soetwas wie die „Reinheit des Evangeliums“ geht – bei mir können ruhig, ja gern viele heidnische Momente dabei sein (wir sprechen hier von Kirchen). Und ganz unabhängig vom künstlerischen Wert, eine Kirche, so wie ich sie mag, sollte etwas Religiöses ausstrahlen – was immer das genau ist.

Aber meine Tochter wollte Advent- und Weihnachtsstimmung erleben und ich bin gern mit ihr hingefahren, denn neugierig, wie Mariazell wirklich ist, war ich auf jeden Fall, und darauf, ob sich meine Vorurteile bestätigen oder nicht.

Wir fuhren mit dem Zug, das heißt also auch mit der Mariazeller Bahn. Bei der Hinfahrt habe ich zum erstenmal den Berg Ötscher erlebt; was heißt „erlebt“; wir sind halt im Respektsabstand vorbeigefahren und haben ihn vom Zug aus in einiger Entfernung leuchten gesehen.
Ich bin ein bekennender Verehrer des Berges meiner Heimat, des Grimming, aber ich war sofort vom Ötscher fasziniert. Der Eindruck war, der Berg entzieht sich, er bewahrt von sich aus Distanz und strahlt eine starke Würde aus – ich dachte sofort: ein heiliger Berg!

In Mariazell selber – man verzeihe mir, daß ich dem Wortspiel nicht auskomme – war die Hölle los. Dichtes Gedränge in Adventmarkt und Kirche; Massen von Besuchern schieben sich durch mit allem Drum und Dran und jeder Menge Alkohol. Aber das habe ich erwartet, darauf war ich gefaßt, deshalb hat es mir auch nicht viel ausgemacht. Die Basilika selber – wie ich es erwartet habe. Möglich, daß ich zu einer ruhigeren Zeit einen Zugang gefunden hätte, möglicherweise, ich glaube aber eher nicht.

Auf dem Rückweg sind wir bei einbrechender Dunkelheit die kurze Wanderung zum Bahnhof gegangen, der Mond leuchtete am Himmel und die Venus strahlte als Abendstern, ich begrüßte sie unauffällig und allmählich tauchen dann einzelne andere Sterne auf.
Es war eine kleine Karawane auf dem Weg zum Zug, zum Teil ziemlich in Eile, ich vermutete zu recht, daß das bereits der Run auf die Sitzplätze im Zug war, und tatsächlich, die Waggons waren schon ziemlich voll. Mit Glück fanden wir noch Sitzplätze, sogar zwei Bänke für uns allein.

Auffällig war eine größere Gruppe von – ich weiß nicht – Tschechen? Slowaken? (am ehesten), oder Polen? - ich bin mir nicht sicher; sie saßen zu weit weg, als das ich sie gut und deutlich hören hätte können, und meine Kenntnisse der verschiedenen „Sounds“ dieser drei slawischen Sprachen sind zu gering, als daß mir das unter diesen Bedingungen klar werden hätte können. Die waren auch in Mariazell eingestiegen und feierten etwas, waren laut, lachten, sangen Happy Birthday, einige waren schon etwas betrunken und wankten beim Gehen. Damit es keine Mißverständnisse gibt: sie waren absolut keine Rowdies; da waren alte Leute, jüngere, junge, Kinder … einfach eine gut gemischte fröhlich feiernde Gruppe. Bedrohung ist von ihnen überhaupt keine ausgegangen. Sie haben niemanden angequatscht, sie waren mehr bei sich.

Dann, irgendwo auf der Strecke nach St. Pölten – der Name der Stadt geht übrigens auf den heiligen Hippolyt von Rom oder möglicherweise auf einen aus Porto zurück – nur so nebenbei, damit bewußt wird, wie groß der gemeinsame, auf einander bezogene Raum in der Antike und im frühen Mittelalter war – ist eine Gruppe Einheimischer eingestiegen, von denen konnte man nicht sagen, daß keine Bedrohung von ihnen ausgegangen wäre. Vom Dialekt her tippe ich auf Niederösterreicher, aber gefragt habe ich sie nicht. Als erstes – ich saß noch mit dem Rücken zu denen – fiel mit ein scharfer Tonfall auf, auch, wie sie zu ihren Kindern geredet haben. Dann ging  gleich eine Wolke von Gehässigkeit von ihnen aus; sofort begannen sie über die Gruppe der feiernden Slawen zu schimpfen. Zuerst habe ich es mehr atmosphärisch mitbekommen, aber nicht hingehört. Dann habe ich mich in Fahrtrichtung gesetzt, da mir dabei – normalerweise – wohler ist und erst jetzt habe ich auf die Gruppe Österreicher gesehen, die sich gleich in die nächsten beiden Sitzreihen von uns gesetzt hatten; hinter denen saß dann die feiernde Gruppe. Da habe ich gerade so halb eine Szene mitbekommen; wenn ich sie richtig verstanden habe, ist einer der Feiernden auf dem Weg zum Klo – schon ein wenig schwankend, bei ruckelnder und zuckelnder Bahnfahrt – an einem quer zur Fahrtrichtung sitzenden Österreicher angestreift. Ich habe den Verdacht, daß letzterer seinen Fuß absichtlich so weit in den schmalen Gang (Schmalspurbahn!) gestreckt hat, daß ersterer an ihm anstreift. Wenn ich es richtig mitbekommen habe – wie gesagt, ich war gerade erst in der Umdrehung – hat dann der Österreicher dem Mann einen Stoß gegeben und irgendwas geschimpft. Gerichtstauglich ist diese meine Wahrnehmung im Bruchteil einer Sekunde nicht; es ging zu schnell. Der Gestoßene sagt dann – nicht eingeschüchtert, ruhig, aber dezidiert - zum Österreicher: „Das ist nicht gut! Was Sie gemacht haben – das ist nicht gut!“ Dann hat er seinen Weg schwankend fortgesetzt. Der Mann hat überhaupt nichts Aggressives ausgestrahlt, war nicht auf Streit aus; er war nur klar und entschieden und seine Aussage kann man nur unterschreiben. Im Gegensatz zum Geschimpfe des Österreichers, von dem ich aus meinem Blickwinkel bloß seine Hände und Beine gesehen habe, die in verhaltener Wut und gerade noch zurückgehaltenem Hass gezuckt haben. Dann war die Rede von „Scheißtschuschen“ und „Kanaken“; die ganze Gruppe der Österreicher hat sich über die Ausländer aufgeregt.

Die ganze Gruppe? Nein, das darf ich nicht sagen, vielleicht waren einige auch still. So wie ich. Ich hatte Angst. Freilich hätte ich gern etwas gesagt, aber ich habe mich nicht getraut. Mir sind auch keine Worte eingefallen und ich war wie gelähmt. Weil ich nicht alles genau mitbekommen habe, war ich unsicher (Ein gefährliches Zögern; irgendwann ist es dann zu spät!). Das soll keine Ausrede sein – beziehungsweise hat das vor meiner inneren Gewissenserforschung als akzeptable Begründung für mein Schweigen nicht standgehalten, sondern sich als Ausrede entlarvt. Nein, ganz einfach, ich hatte Angst. Ich hätte sofort eine Gruppe äußerst aggressiver, gewaltbereiter Männer (und zumindest auch eine Frau) gegen mich gehabt. Erwachsene Männer, Familienväter. Das einzige, was ich für mein Verhalten eventuell gelten lassen kann, ist, daß ich ja auch meine Tochter dabei hatte und daß die Gruppe der Feiernden sehr friedlich waren, aber nicht wehrlos gewirkt haben.

Diese Gruppe der Österreicher haben die ganze Zeit nur (neidisch?) auf die fröhlich Feiernden gestarrt, um irgendetwas zu aufgreifen zu können, über das sie sich aufregen können. Gelacht haben sie nur, als sie glaubten, die ausländische Gruppe steigt bei der falschen Station aus. Dieses böse, hämische Nazilachen, das niemals befreiend und herzerwärmend sein kann. Aber die haben ihnen diese „Freude“ (eine echte Freude kann so etwas nie sein!) nicht gemacht und sind bei der richtigen Haltestelle ausgestiegen.

Ich war erleichtert, als wir endlich ausgestiegen sind und dieser Situation entkommen, aber ich habe mich elend gefühlt; erstens, soetwas erleben zu müssen, und zweitens, diesem Hass gegenüber so hilflos und gelähmt zu sein.

Denn eines ist mir deutlich vor Augen geführt worden: die Frau Gertrude hat vollkommen recht. Die Freiheitlichen und Hofer, sie versuchen, „das Niedrigste aus dem Volk, den Leuten herauszuholen“. Und es gibt verdammt viele, die nur darauf warten, von oben die Erlaubnis zum Zuschlagen zu bekommen. Und jetzt wittern sie Morgenluft für ihren Hass und die Chance, sich eine solche Obrigkeit zu wählen, die ihnen die Lizenz zum Töten gibt.
Ich bin ganz sicher, genauso schrecklich ist das, was sich in unserem Land zusammenbraut. Wenn das so weitergeht, wird es bald sogenannte „Bürgerwehren“ geben, die sich sehr schnell zu einer neuen SA entwickeln werden. Sie lauern schon; sie können ihren Hass kaum zurückhalten.

Ich habe Angst. Es mag falsch sein, Angst zu haben, aber ich habe Angst. Scheißangst. Ich fürchte, es wird wieder Raub, Mord und Totschlag geben. Ich hoffe, daß ich unrecht habe, aber ich habe Angst.

Meine Tochter hat dann – im bitteren Scherz – vorgeschlagen auszuwandern. Abgesehen davon, daß wir uns das nicht leisten können – wohin? Wir haben hin und her überlegt und sind auf Island gekommen. Kann uns wer sagen, wie man nach Island auswandern kann?

Und noch etwas: das mit dem Islam ist nur vorgeschoben. Wenn das „erledigt“ ist – oder vielleicht auch schon gleichzeitig – geht es auch gegen die christlichen, Mariazell besuchenden Slawen.



(3.12.2016)


















©Peter Alois Rumpf     Dezember 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

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