528 Ich liege im Bett und bin im Aufwachen
Ich liege im Bett und bin im Aufwachen. Ich habe Zeit. Ich
beginne, im Kopf den Tag zu ordnen, zuerst die Aktivitäten gleich nach dem Aufstehen.
Ich stelle mir vor, ich werde gleich anschließend meine Tensegrityübungen
machen. Und zwar lang; am besten gleich alle Übungen, die ich kenne, durch. Ich
war in letzter Zeit darin etwas nachlässig. Dauernd ist etwas
dazwischengekommen, ich war krank, irgendwelche Erledigungen, keine Zeit,
andere Aufregungen oder es hat mich einfach nicht gefreut. Eine intensive
Übungseinheit von eineinhalb, zwei Stunden habe ich schon länger nicht mehr
gemacht.
Aber jetzt, jetzt freue ich mich darauf. Das Bild steht klar
und strahlend vor meinem inneren Auge und Zuversicht und Optimismus gehen von
ihm aus und die Vorstellung, mit diesen Bewegungen in innere Stille und einen
meditativen Zustand zu gleiten. Es ist diese Lust damit verbunden, offen, aktiv und fröhlich den Tag zu beginnen, am Morgen, wirklich zu Tagesanfang.
Dann kommt plötzlich der Gedanke: ich könnte auch im Bett liegen
bleiben und lesen. Da spüre ich sofort, ich habe diese Runde verloren; ich
werde nicht aufstehen und üben. Im selben Moment erfaßt mich ein heftiger
Schmerz; ein Schmerz aus Frustration und Enttäuschung. Mein strahlendes Bild
von mir selbst ist weg und Stumpfheit und Dumpfheit treten an seine Stelle.
Wirklich, ich spüre diesen Schmerz körperlich im Bauch. Es ist ein Schock, wie
wenn eine Welt einstürzt. Und es ist ja eine ganze Welt eingestürzt!
Frustration und Enttäuschung – ich halte mich selber nicht
aus; ich mag mich überhaupt nicht.
Ich versuche, das strahlende, optimistische Bild wieder vor
meinem inneren Auge herzustellen, was auch einigermaßen gelingt, aber ich
empfinde es nicht mehr als realistisch. Ich spüre die Freude nicht mehr,
sondern schaue aus einem Abgrund zu diesem Bild hinauf. Wie der reiche Prasser
im biblischen Gleichnis aus der Hölle zu Moses hinaufschaut, durch einen
unüberwindlichen Abgrund von ihm getrennt – das fällt mir dazu ein.
Auch die Tatsache, daß ich ja gerade ein interessantes Buch
lese – ein Argument, das ich öfters schon in die Waagschale zu Gunsten des
Lesens (und Liegenbleibens) werfen konnte – hat jetzt überhaupt kein Gewicht.
Ich erlebe das als schlimmes Versagen, als Verrat an dem „strahlenden Bild“ von
mir.
(Bin ich wirklich so wichtig? Ich meine, die Welt kommt ohne
mich und mein Gelingen zurecht!)
Diese Enttäuschung brennt in mir. Es brennt in der Gegend
von Solarplex und Bauch und jetzt geht sogar eine leichte Übelkeit davon aus.
Was soll das!
Oder ist das „strahlende Bild von mir“ sozusagen die „Idee
Gottes von mir“; also die „Idee“, die Gott von mir gehabt hat, als er mich
geschaffen hat? Versteht ihr? Wobei es nahezu egal ist, wenn man sich „Gott“
nicht als persönlich, sondern als die tragende Kraft denkt. Würde das stimmen,
dann wäre irgendwo irgendwie im Universum eine „Idee“ von mir da, ein Bild, zu
dem ich mich entfalten, zu dem ich mich hinentwickeln soll, darf, kann. Wobei
es nicht unwichtig wäre, ob es um sollen, dürfen oder können geht.
Oder kommt das Bild aus dem eigentlichen „Selbst“, vom
Energiekörper, der – vom Alltagsmenschen verdrängt – immer wieder versucht,
sich bemerkbar zu machen und seine Impulse, seine „Ideen“ einzubringen – zum
Gelingen und für unsere Entfaltung, Gesundung und Heilung?
Ja, dann würde wirklich viel auf dem Spiel stehen, dann
ginge es in dieser Entscheidung wirklich darum, in welcher Welt ich lebe. Und
die Aussage „meiner“ Zauberer, daß echte Dichter begabte, aber gescheiterte
Zauberer sind - Zauberer bezeichnet hier
Menschen, denen es gelingt, ihr wirkliches angeborenes Potential zu entfalten,
so, daß auch eine wirklich erweiterte Wahrnehmung (Sehen) und ein davon
erleuchtetes Handeln verwirklicht werden kann – fällt mir auch dazu ein.
Hier paßt besser: bestenfalls Schriftsteller; bestenfalls!
Aber dieses Potential zum Seher trägt jeder Mensch in sich. Das schreibe ich
her, weil man ja auch diesen Text hier als Ergebnis meines „Verrates“ in die
Waagschale werfen könnte und da muß es klar sein, daß der gegenüber der Verwirklichung
des „leuchtenden Bildes“ als äußerst fragwürdig dasteht. (Aber das wäre schon
ein Scheitern, in dem ich es mir noch am ehesten gemütlich einrichten könnte.)
Diese Überlegungen können nur stimmen, wenn dieses
„strahlende Bild“ echt ist. Ist es nur eine propagandahafte, fotogeshopte
Darstellung der internalisierten Erwartungen meiner Umgebung in meiner
Kindheit, sprich meiner Eltern, dann schaut die Sache ganz anders aus. Ich
denke da zum Beispiel an den Turnerwahlspruch „frisch, fromm, fröhlich, frei“ -
ausgesprochen fragwürdig aus seiner Verknüpfung mit dem unseligen „Turnvater
Jahn“, einem rabiaten Nationalisten und Antisemiten, und des späteren
Nazikontextes solcher „optimistischen“ Sprüche. Ich habe in meiner ganzen
Kindheit genug darunter gelitten, daß ich solchen Bildern nicht entsprochen
habe. Ich gehe jetzt nicht darauf ein, wie ein auf den ersten Blick so
optimistisches Bild Träger solch lebensfeindlicher Haltungen, wie sie im
Nationalsozialismus wirksam wurden, sein kann, sondern frage mich nur, ob es
nicht genau dieses im genauen Sinn des Wortes unselige Erbe mir meine
Lebensfreude, die sich hier in der Freude auf meine meditativen Übungen zeigt,
verdirbt, indem es dieses leuchtende Bild mit dem falschen der NS-Propaganda
überlagert, so, daß ich sofort unsicher werde und meinen Optimismus in Frage
stelle. Nicht, daß ich die Tensegrityübungen irgendwie mit den Nazigeschichten
in Zusammenhang stelle, sondern als bereits automatisierte Reaktion auf alles,
was mir gut und optimistisch erscheint; wo sich sofort ein Mißtrauen gegen
jeden eigenen Optimismus und die mit ihm verbundenen Impulse einstellt. Sofort.
Das ist der Fluch, der auf die Nachkommen der Nazizeit lastet und den es abzuschütteln gilt.
Das Faul-Im-Bett-Liegen ist natürlich auch die falsche
Antwort darauf, denn es bleibt im falschen Gegensatz zwischen aufgesetzter
„Turnerfröhlichkeit“ und „depressiver Versager“ stecken. Der wirkliche und
entscheidende Gegensatz besteht zwischen der Entfaltung des eigenen, im
wahrsten Sinne des Wortes eigentlichen Selbst und seiner Zerstörung, egal ob
durch Krampfoptimismus („Bauch rein! Brust raus!“), der die darunter liegende schwere Depression nur übertüncht, oder gleich direkt durch Depression und
Lebensflucht.
Und es ist ja tatsächlich so, daß ich bei meinem Üben immer
wieder vom Empfinden, vom Spüren der Energie ins „Turnen“ abgleite, wo nicht
mehr das Genießen und Fließen im Vordergrund steht, sondern so blöde Sachen wie
„Überwinden des inneren Schweinehundes“ und eigentlich ein gehässiger Kampf
gegen sich selbst.
Aber diese Übungen heißen auch „magische Bewegungen“, weil
sie in der Lage sind, das eigentliche Selbst zu stärken, so, daß es immer
stärker auf unser Leben wirken kann, und wo dann die Schlüsse, die wir ziehen,
aus wirklichen Erfahrungen kommen und nicht bloß aus dem Hinundherdrehen von
Gedanken.
(5.12.2016)
©Peter Alois Rumpf
Dezember 2016
peteraloisrumpf@gmail.com
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