Montag, 5. Dezember 2016

528 Ich liege im Bett und bin im Aufwachen

Ich liege im Bett und bin im Aufwachen. Ich habe Zeit. Ich beginne, im Kopf den Tag zu ordnen, zuerst die Aktivitäten gleich nach dem Aufstehen. Ich stelle mir vor, ich werde gleich anschließend meine Tensegrityübungen machen. Und zwar lang; am besten gleich alle Übungen, die ich kenne, durch. Ich war in letzter Zeit darin etwas nachlässig. Dauernd ist etwas dazwischengekommen, ich war krank, irgendwelche Erledigungen, keine Zeit, andere Aufregungen oder es hat mich einfach nicht gefreut. Eine intensive Übungseinheit von eineinhalb, zwei Stunden habe ich schon länger nicht mehr gemacht.
Aber jetzt, jetzt freue ich mich darauf. Das Bild steht klar und strahlend vor meinem inneren Auge und Zuversicht und Optimismus gehen von ihm aus und die Vorstellung, mit diesen Bewegungen in innere Stille und einen meditativen Zustand zu gleiten. Es ist diese Lust damit verbunden, offen, aktiv und fröhlich den Tag zu beginnen, am Morgen, wirklich zu Tagesanfang.
Dann kommt plötzlich der Gedanke: ich könnte auch im Bett liegen bleiben und lesen. Da spüre ich sofort, ich habe diese Runde verloren; ich werde nicht aufstehen und üben. Im selben Moment erfaßt mich ein heftiger Schmerz; ein Schmerz aus Frustration und Enttäuschung. Mein strahlendes Bild von mir selbst ist weg und Stumpfheit und Dumpfheit treten an seine Stelle. Wirklich, ich spüre diesen Schmerz körperlich im Bauch. Es ist ein Schock, wie wenn eine Welt einstürzt. Und es ist ja eine ganze Welt eingestürzt!
Frustration und Enttäuschung – ich halte mich selber nicht aus; ich mag mich überhaupt nicht.
Ich versuche, das strahlende, optimistische Bild wieder vor meinem inneren Auge herzustellen, was auch einigermaßen gelingt, aber ich empfinde es nicht mehr als realistisch. Ich spüre die Freude nicht mehr, sondern schaue aus einem Abgrund zu diesem Bild hinauf. Wie der reiche Prasser im biblischen Gleichnis aus der Hölle zu Moses hinaufschaut, durch einen unüberwindlichen Abgrund von ihm getrennt – das fällt mir dazu ein.
Auch die Tatsache, daß ich ja gerade ein interessantes Buch lese – ein Argument, das ich öfters schon in die Waagschale zu Gunsten des Lesens (und Liegenbleibens) werfen konnte – hat jetzt überhaupt kein Gewicht. Ich erlebe das als schlimmes Versagen, als Verrat an dem „strahlenden Bild“ von mir.

(Bin ich wirklich so wichtig? Ich meine, die Welt kommt ohne mich und mein Gelingen zurecht!)

Diese Enttäuschung brennt in mir. Es brennt in der Gegend von Solarplex und Bauch und jetzt geht sogar eine leichte Übelkeit davon aus. Was soll das!

Oder ist das „strahlende Bild von mir“ sozusagen die „Idee Gottes von mir“; also die „Idee“, die Gott von mir gehabt hat, als er mich geschaffen hat? Versteht ihr? Wobei es nahezu egal ist, wenn man sich „Gott“ nicht als persönlich, sondern als die tragende Kraft denkt. Würde das stimmen, dann wäre irgendwo irgendwie im Universum eine „Idee“ von mir da, ein Bild, zu dem ich mich entfalten, zu dem ich mich hinentwickeln soll, darf, kann. Wobei es nicht unwichtig wäre, ob es um sollen, dürfen oder können geht.

Oder kommt das Bild aus dem eigentlichen „Selbst“, vom Energiekörper, der – vom Alltagsmenschen verdrängt – immer wieder versucht, sich bemerkbar zu machen und seine Impulse, seine „Ideen“ einzubringen – zum Gelingen und für unsere Entfaltung, Gesundung und Heilung?
Ja, dann würde wirklich viel auf dem Spiel stehen, dann ginge es in dieser Entscheidung wirklich darum, in welcher Welt ich lebe. Und die Aussage „meiner“ Zauberer, daß echte Dichter begabte, aber gescheiterte Zauberer sind -  Zauberer bezeichnet hier Menschen, denen es gelingt, ihr wirkliches angeborenes Potential zu entfalten, so, daß auch eine wirklich erweiterte Wahrnehmung (Sehen) und ein davon erleuchtetes Handeln verwirklicht werden kann – fällt mir auch dazu ein.
Hier paßt besser: bestenfalls Schriftsteller; bestenfalls! Aber dieses Potential zum Seher trägt jeder Mensch in sich. Das schreibe ich her, weil man ja auch diesen Text hier als Ergebnis meines „Verrates“ in die Waagschale werfen könnte und da muß es klar sein, daß der gegenüber der Verwirklichung des „leuchtenden Bildes“ als äußerst fragwürdig dasteht. (Aber das wäre schon ein Scheitern, in dem ich es mir noch am ehesten gemütlich einrichten könnte.)

Diese Überlegungen können nur stimmen, wenn dieses „strahlende Bild“ echt ist. Ist es nur eine propagandahafte, fotogeshopte Darstellung der internalisierten Erwartungen meiner Umgebung in meiner Kindheit, sprich meiner Eltern, dann schaut die Sache ganz anders aus. Ich denke da zum Beispiel an den Turnerwahlspruch „frisch, fromm, fröhlich, frei“ - ausgesprochen fragwürdig aus seiner Verknüpfung mit dem unseligen „Turnvater Jahn“, einem rabiaten Nationalisten und Antisemiten, und des späteren Nazikontextes solcher „optimistischen“ Sprüche. Ich habe in meiner ganzen Kindheit genug darunter gelitten, daß ich solchen Bildern nicht entsprochen habe. Ich gehe jetzt nicht darauf ein, wie ein auf den ersten Blick so optimistisches Bild Träger solch lebensfeindlicher Haltungen, wie sie im Nationalsozialismus wirksam wurden, sein kann, sondern frage mich nur, ob es nicht genau dieses im genauen Sinn des Wortes unselige Erbe mir meine Lebensfreude, die sich hier in der Freude auf meine meditativen Übungen zeigt, verdirbt, indem es dieses leuchtende Bild mit dem falschen der NS-Propaganda überlagert, so, daß ich sofort unsicher werde und meinen Optimismus in Frage stelle. Nicht, daß ich die Tensegrityübungen irgendwie mit den Nazigeschichten in Zusammenhang stelle, sondern als bereits automatisierte Reaktion auf alles, was mir gut und optimistisch erscheint; wo sich sofort ein Mißtrauen gegen jeden eigenen Optimismus und die mit ihm verbundenen Impulse einstellt. Sofort. Das ist der Fluch, der auf die Nachkommen der Nazizeit lastet und den es abzuschütteln gilt.

Das Faul-Im-Bett-Liegen ist natürlich auch die falsche Antwort darauf, denn es bleibt im falschen Gegensatz zwischen aufgesetzter „Turnerfröhlichkeit“ und „depressiver Versager“ stecken. Der wirkliche und entscheidende Gegensatz besteht zwischen der Entfaltung des eigenen, im wahrsten Sinne des Wortes eigentlichen Selbst und seiner Zerstörung, egal ob durch Krampfoptimismus („Bauch rein! Brust raus!“), der die darunter liegende schwere Depression nur übertüncht, oder gleich direkt durch Depression und Lebensflucht.

Und es ist ja tatsächlich so, daß ich bei meinem Üben immer wieder vom Empfinden, vom Spüren der Energie ins „Turnen“ abgleite, wo nicht mehr das Genießen und Fließen im Vordergrund steht, sondern so blöde Sachen wie „Überwinden des inneren Schweinehundes“ und eigentlich ein gehässiger Kampf gegen sich selbst.
Aber diese Übungen heißen auch „magische Bewegungen“, weil sie in der Lage sind, das eigentliche Selbst zu stärken, so, daß es immer stärker auf unser Leben wirken kann, und wo dann die Schlüsse, die wir ziehen, aus wirklichen Erfahrungen kommen und nicht bloß aus dem Hinundherdrehen von Gedanken.




(5.12.2016)











©Peter Alois Rumpf     Dezember 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

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