Donnerstag, 24. November 2016

516 Wundertäterfragment 24

„Wundertäter! Hör einmal, Alter! Was meckerst du die ganze Zeit herum?! Dein Leben wäre nicht gut verlaufen? Spinnst du?!

Du hast in deiner Kindheit einen guten Grundstock gelegt bekommen, als du Ministrant wurdest und dabei in die religiöse Welt eingetreten bist und andächtig den Gottesdiensten beigewohnt und zum Beispiel die „Bubenweisheit“ immer wieder gelesen hast. Da wurde deine Nase genau in die Richtung gedreht, die dich interessiert, nämlich in Richtung Transzendenz. Dieser Spur folgst du bis heute. Im Zuge dessen hast du dir als Kind ganz allein deine Neigung, in Tagträume zu flüchten, abgewöhnt, in einem tapferen, konsequenten, klug und mit Geduld, ohne Fanatismus geführten wochenlangen Kampf – ohne jede Hilfe von außen, ganz für dich allein. Einfach indem du immer dann, wenn du merktest, vor allem vorm Einschlafen, daß du in Phantasien abgleitest, zu dir "nein" sagtest und dich so wieder in die Gegenwart zurückgeholt hast. Eine reife Leistung in dem Alter!
Du durftest trotz Widerstandes des Volksschuldirektors und mit Unterstützung einer Lehrerin bei deinen Eltern aufs Gymnasium gehen.
Damit es nicht zu eng und starr wird, wurde dir die Popmusik serviert mit allem Drum und Dran und du hast via Musicbox gut angebissen.
Du hast dann beim Studieren die interessantesten Leute kennen gelernt, vor allem unter den Studenten, die deinem Denken und deiner Artikulation entscheidende Impulse gegeben haben in unzähligen Diskussionen und Gesprächen in den Wohngemeinschaften oder in der Mensa oder beim Kodolitsch und dabei Kant, Hölderlin, Freud, Heidegger, Wittgenstein, Marx, Berger – Luckman und viele andere kennengelernt – ich kann sie nicht alle aufzählen. Sie haben dir alle geholfen, dich aus den geistigen Selbstverständlichkeiten deiner Kindheit zu lösen und deinen Horizont entscheidend zu erweitern. Du hast von einem betrunkenen, bekannten Universitätsprofessor und Literaten einen realen Tritt in den Hintern bekommen.
Du hast es ausgehalten, alles hinzuschmeißen und aus der Kirche auszutreten und ganz andere Wege zu gehen. Du hast dich unter dem Einfluß von und in intensiven Diskussionen mit feministischen  Studentinnen mit dem Thema Unterdrückung der Frau gründlich auseinandergesetzt, anfangs ganz naiv, dann immer verständiger. Du warst der Mitbegründer der – soweit wir wissen – ersten Männergruppe in Österreich.
Du hast dich dem Rausch hingegeben, seine Freuden und Leiden ausgekostet, dabei in besonderen Momenten die Hingabe des Ich an die Liebe zu Menschen und Welt empfunden und bist doch wieder davon weggekommen.
Du hast ein paar zum Teil unbedankte kleine „Heldentaten“ vollbracht (ich erinnere mich nur an eine!) (Naja, zwei) und du hast ein paar mutige, zum Teil richtige Aktionen durchgezogen – mit anderen und alleine.
Du hast es geschafft, dich tapfer aus dieser Szene zu lösen und wegzugehen, als es für dich nimmer gepaßt hat – wenn auch mit ein paar absurden Begleiterscheinungen.
Du bist trotz ursprünglicher Abwehr, aber in wacher Aufmerksamkeit – fast könnte man sagen über ein Omen – auf die Bücher Castanedas gestoßen, die dir endlich „deine“ Welt eröffnet haben, die für dich immer noch die beste Erklärung des Daseins, der Welt und des Menschen darin bieten, die du kennst, und die dich letztlich wirklich mit deiner christlichen Kindheit neu verbunden haben.
Du hast es riskiert, etwas ganz anderes zu probieren, trotz all deiner Angst davor. Auch wenn das gescheitert ist – es war eine Erfahrung und du kannst seitdem bis heute gut mit einer Handsäge sägen.
Du hast dich durchs Leben geschlängelt und bist trotz aller Widrigkeiten durchgekommen. Du hast dich in dir ganz fremden Arbeitswelten bewegt und es ausgehalten. Du hat überhaupt viel, viel Angst ausgehalten. Lebensangst und Existenzangst. Ich weiß, oft so starke Angst, daß du überhaupt nicht mehr weiter wußtest und du im Bett verkrümmt seitlich eingerollt gezittert hast. Du hattest dann beschlossen, dich auf den Rücken zu legen und dich deiner Angst zustellen und hast das geschafft.
Du hast Armut ausgehalten und einige beinahe ungeheizte Winter - runter bis acht Grad in der ärmlichen Wohnung – und hast trotzdem eine Ausstrahlung gehabt, daß dich keiner als Sandler angesehen hat. Du hast nach einem Zeckenbiß vierzig Grad Fieber alleine und ohne Arzt durchgestanden, weil du keine Krankenversicherung hattest.
Du hast Phasen der unfreiwilligen, aber schließlich akzeptierten Keuschheit mit der mit ihr einhergehenden Intensität an Welt- und Transzendenzerfahrung genießen können, aber auch Phasen intensiver sexueller Aktivität und rauschhafter Abenteuer von größter Intensität mit allen Freuden und Schmerzen.
Du hast die Astrologie gelernt bei einem Lehrer, der ein „Genie ist, wie es nur alle zweitausend Jahre gibt“ und dabei ungeheuer viel an Erkenntnis aufgenommen und hast es an einem 15.9. geschafft, astrologisch auszurechnen, wo am 16.9. in Wien neue Baustellen aufgemacht werden werden und es auch überprüft. Du hast dich auf diesen Lehrer ganz eingelassen und dich schließlich im härtesten, zähesten inneren Kampf deines Lebens wieder von ihm und seinem Sog gelöst.
Du hast schon früh die Musik kennen und lieben gelernt, zum Teil von wirklich kompetenten Begleitern, zum Teil ganz allein. Jemand hat dir einfach so seine ganze Plattensammlung geschenkt (Danke!). Du hast Bach, Barock, alte Musik, Klassik, Pop, ein wenig Jazz, Lieder, Volksmusik aus aller Welt und vieles anderes mehr kennengelernt, den Bela Bartok schon in deiner Kindheit und hast das Revolutionary Ensemble live erlebt – du bist erfüllt und komplett ergriffen dagestanden, von einer Intensität erfüllt, wie man sie nur selten erlebt. Oder das Art Ensemble of Chicago, die ihre Konzerte mit einer Minute absoluter Stille und konzentrierter Versenkung begonnen haben. Und viele, viele andere! Du bist da immer wieder auf die tollsten Sachen gestoßen und ich möchte schon sagen – du hast dir einen erlesenen Musikgeschmack geschaffen.
Und was du alles gelesen hast! Literatur, Wissenschaftliches, Philosophisches, Psychologisches, - ach, alles kann ich gar nicht aufzählen – Verstandenes und Unverstandenes. In deiner ärmsten Lebensphase hast du trotzdem ein Buch über den Nominalismusstreit an der Pariser Universität im 14. und 15. Jahrhundert, weil es da um die Entwicklung des modernen Realitätsbegriffs geht und dir das wichtig war, gekauft, obwohl es siebenhundert Schilling gekostet hat; wirklich vom Mund abgespart.
Du hast dich auf die Kunst eingelassen, tolle Filme gesehen, die wirklich den Geist einer Epoche einfangen, ausdrücken und transzendieren. Tanz, Performance. Die bildende Kunst, hast Max Weiler persönlich gesehen. Du hast dich regelrecht verführen lassen, selber zu malen und zu zeichnen, warst bei der interessantesten Künstlergruppe deiner Stadt zu dieser Zeit dabei und hast dort einiges gemacht, riskiert; hast da deine Bilder und Zeichnungen ausgestellt, ein Konzert veranstaltet, dich dort selber zehn Tage in ein Gehege gesperrt und bist auch wieder rechtzeitig von der Gruppe weggegangen. Du bist in drei, vier Jahren vom Anfänger zum in der Szene doch nicht ganz unbekannten Künstler avanciert, mit einigen Ausstellungen im In- und Ausland, Kritiken in Zeitungen und einer kleinen, kurzen Besprechung im Kunstforum und einem nachgeworfenen Parisstipendium. Du warst auf mehreren Malerwochen eingeladen, und auf einer hast du solch herrliche Performances hingelegt, daß die Teilnehmer und Innen drei Wochen durchgelacht haben und sich der Kulturreferent des Landes gewundert hat, wie du in seiner Anwesenheit in einen Mistkübel geköpfelt bist.
Es gab interessante Aktionen, an denen du aktiv mitgearbeitet hast und eine hast du selber initiiert.
Du hast es geschafft – durch einen Impuls von außen angestoßen – dein abgebrochenes Studium in einem schwierigen Alter und unter schwierigen Bedingungen abzuschließen und dabei wieder in die katholische Kirche einzutreten. Du hast es ertragen können, daß dir dein Studienabschluß in irdischer Hinsicht nichts gebracht hat – du hast schon kurz vorm Abschluß gewußt, daß er dir nichts bringen wird (außer, daß du jetzt mit Mag. Josef Wundertäter unterschreiben kannst) – und bist an der Enttäuschung darüber nicht zerbrochen. Du hast „tapfer gegen das eigene Empfinden“ (W.D.) ankämpfend versucht, in der Kirche wieder heimisch zu werden, du hast nicht gleich aufgegeben und die Unmöglichkeit dann doch demütig akzeptiert.
Du hast in deinen späteren Lebensjahren noch ein treues Weib gefunden, das dich liebt, und durftest - trotz allem vorher - nach den Freuden der Zeugung deiner Kinder auch ihre Geburten mit bis zur Trance gesteigerter Intensität als wahrhaft magische Momente erleben. Du konntest deinen Kindern beim Aufwachsen zuschauen, sie dabei begleiten und genießen und die Freuden und Herausforderungen der Vaterschaft erfahren. Du konntest die Schwierigkeiten und Freuden einer im Alltag sich bewährenden Ehe erleben, ihre Herausforderungen, Krisen, Glücksmomente und hast ihre Weiterentwicklung und das Vertiefen und Wachsen eurer Liebe erfahren dürfen, bis dahin, daß sie sich als Basislager für eure Lebensreise bewährt und den beiden Wandernden und Gefährten sowohl Schutz als auch Anregung zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit und Ermutigung und zahlreiche glückliche, erfüllte Momente schenkt.
Du hast bei „denen drüben“ schon einmal reingeschaut und hast dem immensen Druck dort in deren Welt standgehalten und dich nicht aufgelöst und bist wieder heil - wenn auch an zwei – zugegeben, nicht weit auseinanderliegenden - Orten zugleich  - zurückgekommen und hast instinktiv gewußt, wie du das wieder hinkriegen kannst.
Du hast mit weit über Fünfzig noch eine bescheidene, aber doch eine Anstellung gefunden, womit du überhaupt nicht mehr rechnen konntest und hast dann noch – auch das hast du dir überhaupt nicht vorstellen können – das Schreiben für dich entdeckt.

Was noch? Was habe ich vergessen? Du hast einem dichtenden „Bauer“ (oder einem bäurischen Dichter) in deiner Jugend auf seiner Party die einzige zu diesem Zeitpunkt anwesende Frau entführt.
Du bist vor Jahren auf die magischen Bewegungen gestoßen und hast heute entdeckt, daß man die auch barfuß am groben Atelierboden üben kann.
Du hast in deinem Leben gelernt, herzhaft über dich zu lachen, wenn schon nicht immer gleich, so doch in einem gewissen Abstand.
Du hast dich trotz eher schwacher Stimme – eine freundliche Anregung aufnehmend - getraut, in einem kleinen russisch-orthodoxen Kirchenchor zu singen, und dabei wunderschöne Momente von beinah mystischer Dimension erlebt.

Alter! Dein Leben ist randvoll und reich! Und du weißt, da fehlt noch viel in meiner Aufzählung. Freund! Hör auf mit dem Jammern, du Wundertäter ohne Wunder!“

Wundertäter: „Hör auf, so einseitig zu reden. Sonst werden die Götter noch eifersüchtig!“






(23./24.11.2016)















©Peter Alois Rumpf    November 2016    peteraloisrumpf@gmail.com


0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite