509 Luftanhalten
Wenn ich die Buben, die meine Kindheit überschattet haben,
als meine Peiniger bezeichne, dann ist das übertrieben, denn da würde man doch
an ein jahrelanges Martyrium denken. Die „richtigen“ Übergriffe geschahen –
soweit ich mich erinnere – eher selten. (Vergleiche „Die Pachernegg-Szene“,
Nummer 88 hier in der Schublade. (Nicht nur Nomen, auch Nummern können Omen
sein!)) Aber in ständigem Alarmzustand und ständiger Angst war ich doch, denn
jeden Moment konnte ihnen etwas einfallen. Ich war ihnen wehrlos ausgeliefert
und in den Eltern hatte ich überhaupt keinen Rückhalt; im Gegenteil, vor allem
die Mutter hat mich ihnen regelrecht ausgeliefert.
Diese Buben waren ein paar Jahre älter als ich - mit fünf,
sechs, sieben, acht macht das viel aus – und ich war für sie ein geborenes
Opfer. Der Anführer war – wie nenne ich ihn? - der Hacken-Sepp. Der wohnte mit
seinen Eltern im gleichen Buwoghaus wie wir. Diese zweifelhaften „Freunde“
genossen es, mich in Angst und Schrecken zu versetzen. Was ihnen leicht gelang,
denn ich glaubte ihnen alles. Körperliche Schmerzen haben sie mir nicht
ständig, aber doch immer wieder zugefügt, die ich mir immer einfach gefallen
ließ (Handumdrehen, Schwitzkasten etc.). Gepetzt habe ich nie.
Manchmal verlief die „Kommunikation“ mit ihnen harmlos, oder
scheinbar harmlos, denn das war klar, daß sie mir dauernd Befehle gaben und
Anweisungen, ich solle dies und das tun. Wenn ich mich dagegen zu wehren
versuchte, so hielt ich ihrem hartnäckigen Drängen, Drohen und manchmal
handgreiflichen Insistieren nie lange stand. Dann machte ich, was sie wollten.
Wie schon öfters hier beschrieben haben sie mich oft einfach
bei der Mutter abgeholt, fragten sie, ob sie mich mitnehmen durften – ich wurde
nicht gefragt, oder war von ihnen schon vorher überredet worden, das, was sie
vorschlugen, zu wollen – und meiner Mutter war das sehr recht, in der Hoffnung,
daß die mich zu einem „richtigen“ Buben, wie sie es in den Augen der Mutter
waren, zurechtbiegen werden. Im
Handumdrehen sozusagen.
In Wirklichkeit waren das natürlich auch schon „richtige“
Übergriffe („Komm, ich zeig' dir einen Griff!“ und schon war ich am Boden
geworfen oder in den Schwitzkasten verkrümmt oder ähnliches. Die waren zirka
fünf Jahre älter) und das Ganze hatte sicher desaströse Auswirkungen auf mein
Selbstwertgefühl (so etwas habe ich nämlich gar nicht), denn ständig in seinem
Willen gebrochen oder verführt zu werden ist doch ein ständiger Mißbrauch, der
in einem einen Ekel vor einem selber hinterläßt. Ein seelischer Mißbrauch, wenn
sie so wollen.
Einmal waren wir, der Hacken-Sepp, noch ein Zweiter, wo ich
vergessen habe, wer das war, und ich in einem ganz kleinen Wasserbassin,
eventuell ein Wasserreservoir für die Feuerwehr, so ein, eineinhalb Kilometer
von zu Hause entfernt, baden. Ich habe überhaupt keine Erinnerung daran, warum
wir dort hingegangen sind; ich vermute, sie haben mich wieder einmal „abgeholt“
und „mitgenommen“. Wir schwimmen ein paarmal hin und her, dann gab es
Tauchspiele, die bald in gegenseitiges Untertauchen übergingen, wobei die
Gegenseitigkeit bei den zwei anderen Gleichaltrigen gegeben war, bei mir war
das Geschehen eher „asymetrisch“ - ich war der, der untergetaucht wurde. Dann
spielten sie, wer am längsten die Luft anhalten kann. Einer hat angehalten, der
andere hat die Sekunden gezählt.
Ich mochte solche Wettbewerbe nie, weil ich sowieso immer
der Verlierer war und weil mir das Konkurrieren von Grund auf zuwider ist; aber,
wie immer, ich bin nicht ausgekommen.
Zuerst sind wir beim Luftanhalten untergetaucht, aber dann
wurde der Wettbewerb der Einfachheit halber im Wasser bloß stehend
weitergeführt. Und dabei habe ich irgendwie einen Trick herausgefunden, so
flach und unauffällig zu atmen, daß die beiden es nicht merkten und meine
„Luftanhaltephasen“ immer länger wurden. Sie staunten über meine Ausdauer und
das erste und einzige Mal hörte ich von ihnen die Worte „Pah! Du bist gut!“ Das
klang nach echter Bewunderung und Anerkennung – sie sind voll reingefallen.
Nebenbei gesagt: diese flache Atmung erinnert mich an
Zustände der Schockstarre, und die hatte ich schon oft erlebt, sodaß mir die
flache, unauffällige Atmung schon vertraut war und ich in ihr geradezu
trainiert war. Vermutlich ist mir deshalb der Trick, auf den ich in diesem
Moment wie zufällig gestoßen bin, so leicht gefallen. Noch mehr, zunächst war ich mir selber gar nicht sicher, ob ich atme oder nicht.
Zurück zur Geschichte. Die Buben sprechen ihre Achtung für
meine Leistung aus, aber in mir stieg bald folgender Gedankengang auf: „wenn
die jetzt glauben, ich kann so lange die Luft anhalten, dann werden sie mich
möglicherweise auch so lange untertauchen, weil sie glauben, ich halte das aus!
Ich muß ihnen sagen, daß das nur ein Trick war, sonst halten die mich zu lange
unter Wasser und es wird gefährlich.“
Also sage ich es ihnen. Sofort behaupteten die Zwei, daß sie
das sowieso durchschaut hätten, so in dem typischen Angebertonfall, mit dem sie
ihre Bewunderung vorhin wieder ausbügeln wollten.
Kommt Ihnen nicht auch vor, daß das für einen fünf, sechs
Jährigen schon recht düstere Überlegungen sind? Sie waren aber realistisch und
angebracht! Ist es nicht traurig, daß ich mich so bedroht fühlen mußte? Ich
finde schon, daß das traurig ist und meine völlige Schutzlosigkeit damals
zeigt.
Übrigens war auch der Vater dieses Hacken-Sepp der gleiche
Typ. Er hat sich als erwachsener Mann – als ich einmal, wie so oft, bei ihnen
oben in der Wohnung war, auf Besuch beim Sepp – es sich nicht verkneifen
können, mich aufzufordern, mein Gesicht an seinen Hintern zu halten – von
meiner Körpergröße her hat es gut gepaßt. Ich habe den Kopf verneinend
geschüttelt, verlegen leise „nein“ gesagt, aber - wie bei seinem Sohn – habe
ich dem Druck nicht lange standgehalten und ich habe brav mein Gesicht zu
diesem Arsch gehalten und er hat mir einen lauten, stinkenden Furz ins Gesicht
geblasen und dann herzlich gelacht. Ist ja nur eine Hetz! (Das war zwar in der Steiermark, aber so
ähnlich stelle ich mir auch das „goldene Wienerherz“ vor.) Seine Frau, die
Mutter des Hacken-Sepp, hat mit ihm geschimpft, warum er so einen Blödsinn
macht! Aber nicht, weil sie eine solche Tat für unwürdig und schamlos und
übergriffig hielt, auch nicht aus Mitgefühl mit mir, sondern weil „er“ – sie
deutet mit dem Kopf in einer verächtlichen Geste auf mich – weil „er das unten“
- also meinen Eltern – erzählen wird. Der gute, oder besser gesagt, der
schlechte Mann wußte aber ganz genau, daß ich das nicht machen werde. Und er
fragt mich noch pro forma – zur Beruhigung seiner Frau - „Gell, Peter, das
erzählst du nicht?“ Und ich schüttle den Kopf in zustimmender Verneinung und
flüstere verschämt „Nein“. Schließlich war ich es ja, der sich geschämt hat und
rot geworden ist. "Siehst du!", sagt der erwachsene Lümmel zu seiner Frau.
Wenn ich an diese Szene und die vielen anderen, ähnlich
gelagerten meiner Kindheit denke, überkommt mich eine immense Trauer und das
Gefühl, vollkommen schutzlos aufgewachsen zu sein.
Aber auch jetzt wartet dieser verkommene und hinterfotzige
Pöbel wieder ungeduldig darauf, endlich wieder loslegen zu dürfen. Die Kinder
schlagen, andere demütigen und quälen, den Flammenwerfer einsetzen, den
„Knüppel aus dem Sack“ holen (J. Gudenus).
Sie sehen also, es ist bei mir nicht nur die Trauer
da. Aber sie ist das grundlegendere Gefühl und das zu recht. Denn in erster
Linie ist die Verzweiflung eines solchen Opfers traurig, unendlich traurig;
aber auch der ärmliche Seelenzustand bei solchen Tätern – im Grunde traurig,
unendlich traurig.
P.S.: Apropos „Knüppel aus dem Sack“: Es ist auch
vorgekommen, daß die Übergriffe des Hacken-Sepp und seiner Konsorten ins
Sexuelle gekippt sind. Indem sie mir fünf, sechs Jährigem eingeredet haben, daß
Geister im Raum sind, die es auf mich abgesehen haben (wie wahr!) und die ich
nur bannen könne, wenn ich mich ausziehe und nackt auf ihrem Schoß sitze, Ich
habe getan wie angeschafft und – das ist das wirklich Erstaunliche dabei – ich
suggestibles Kind habe die Geister wirklich gesehen, als so schnell sich
bewegende, schwach leuchtende „Kugelblitze“, die im Raum, immer am Rande meines Blickfeldes, herumfuhren. Und
dabei noch registriert, daß sich die beiden Helden erstaunt angeschaut haben,
als ich ausrufe: „Da! Da ist einer! Und dort auch!“. Da war mir klar, daß sie
mich mit den Geistern angelogen und reingelegt haben, daß sie sie gar nicht
sehen, aber ich, ich sehe sie!
(17./18.11.)
©Peter Alois Rumpf November
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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