294 Morgenrot
Heute stechen mir die roten Dinge in meinem Zimmer ins Auge
und ich muß an den Waschlappen denken, den mit den kleinen, blutroten
Rechtecken in seiner Musterung, die mir in meiner düstersten Zeit das Leben
gerettet haben. Liebe Leserin, lieber Leser, ich muß innerlich laut lachen über
das Rätsel, das ich euch damit stelle.
Es war nämlich so: damals hat mich, der ich mich komplett verstiegen
hatte in inneren Windmühlenkämpfen, das Betrachten dieser lebensfarbigen
Farbtupfer am Waschlappen – das einzige warme Rot in meiner Einsiedlerwohnung –
dazu verleitet, meinen Blick wieder mehr zum Leben hin zu wenden und meine
innere Fokussierung auf diese lebensbejahende Richtung umzujustieren; und
tatsächlich, allmählich löste ich mich von dieser ständigen lebensgefährdenden
Selbstzerfleischung; nicht vollständig, aber ich gewann etwas Abstand und
konnte mich wieder ein wenig der Welt und dem Leben zuwenden.
Und genauso wirkt das Rot auch heute auf mich, lebensvoll
und lebensbejahend, lebendig, mit der Welt und dem Leben versöhnend. Ich fühle
mich gut, und Zuversicht und Optimismus erhellen meinen Blick. Der Wecker tickt
langsam, aber fröhlich, in meinem inneren Kino taucht dabei das Bild eines
alten Mannes auf, der langsam, aber mit Inbrunst seinen Tanz hinlegt. Darauf
meldet sich gleich mein Kreuz, ein leichtes Ziehen plötzlich, nicht unbedingt
unfreundlich, eher wie ein Lebenszeichen, als eine sanfte Botschaft meiner
kaputten Wirbelsäulenscheibe. Ich verstehe nicht ganz, was sie sagen will,
vielleicht nur „ich bin auch noch da!“.
Oder sollte ich mich vom Rot in Regionen locken lassen haben, in denen ich
nichts verloren habe? Ist das die Botschaft? Dann ist es zu spät – aber ich
glaube dieser Versuchung zum Totalrückzug auch gar nicht mehr.
Mein Blick fällt auf das Photo eines Granatapfels, eines
Marienkäfers und auf eine Zeichnung meiner damals kleinen Tochter, das mich mit
lächelnden roten Lippen zeigt. Selbst ein verhalten rotes Radkreuz finde ich,
und eine von meinen Kindern gebastelte Fußballplakette – aus der Zeit, als ich
im Fernsehen noch Fußballspiele schaute – wo der gezeichnete Fußball von einem
warmen Rot umkränzt ist.
Der kleine Cedeplayer glänzt in Rot und eine Rolle Geschenkpapier
– wie passend, ersterer steht für die Musik, die mein Leben bereichert, und
zweitere für das, was ich geben kann.
Und viele Bücher in Rot, darunter auch Gedichte von Juan
Ramon Jimenez.
Auch mein Notizbuch hat ein rotes Bändchen, mein Lesezeichen
und Leitfaden beim Schreiben.
„Rotlichtmilieu“ und „Rot-arier“ fallen mir ein; aber jetzt
wird es ungemütlich, obwohl mir eine schnurrende Katze auf der Brust liegt.
Jetzt droht meine Lebensbejahung zu kippen, denn etwas Ungutes und Angst
versuchen sich einzuschleichen, und so etwas wie Gier, Lebensgier.
Aber draußen, draußen ist ein herrlicher Morgen, wo die
Sonne gerade ihre ersten roten Strahlen auf die Dächer wirft.
Und nun, wo ich das Notizbuch weglege und meine
aufgestellten Beine ausstrecke, sehe ich auch noch meine rote Tagesdecke im
Schreibtischsessel liegen.
Ich bleibe in Balance.
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