291 Bedenke, oh Mensch …
Ich bin im Aufwach-/Einschlafmodus, der wunderbare Zustand,
wo das Denken dauernd ins Absurde stolpert, die Bilder der Wahrnehmung ständig
kippen, wie in Vexierbildern, die zwischen Traum und Wirklichkeit changieren
und in dem die Assoziationen wie in einem lebendigen Fluß von trägem
Dahinfließen bis zu überraschenden Kaskaden und Wasserfällen gelangen und in
unerwartete Schluchten des Unbewußten stürzen können, um sich dann wieder in
still mäanderndem Dahinfließen des Gewahrseins zu beruhigen. Dem Einschlaf- und
den Aufwachkräften gleichzeitig ausgesetzt, manchmal in schwebender Balance,
manchmal da und manchmal dort.
Unten scheucht jemand mit Klatschen und Rufen eine Katze
vielleicht vom Tisch und mich und mein katzenartig umherschleichendes
Bewußtsein Richtung Realität, sodaß ich das Licht aufdrehen, Notizbuch, Stift
und Brille nehmen kann und schreiben.
Ich liebe diesen Zustand zwischen Verlieren und Sich-Finden,
zwischen Auflösung und „Wiederaufbau“, die heruntergefahrene Kontrolle gibt
vielen Bildern, Gefühlen, Gedanken die Chance durchzukommen. Manche gehen auch
verloren, weil meine Aufmerksamkeit nur halb wach ist. Fast eine Stunde habe
ich in diesem Zustand verbracht, mir erscheint sie wie fünf, zehn Minuten.
Die Gerüche narren mich etwas, weil ich genau weiß, was sie
sind, aber mir trotzdem als etwas anderes erscheinen; wie ein verspäteter
Faschingsnarr am Aschermittwochmorgen erscheint mir der Geruch von Kaffee zum
Beispiel als als etwas anderes verkleidet; er riecht nach – ich weiß nicht
recht, ich weiß nicht, als was er geht.
Heute ist wirklich der Tag, wo der Mensch aus Staub ist und
zu Staub zurückkehren wird. Sternenstaub, genauer gesagt. Ein aufregender
Gedanke! Ein Gedanke, der hellwach macht. Aber die schlafziehenden Kräfte sind
noch da.
Eine gewisse Unruhe geht umher, vermutlich gespeist aus
Angst, die auch mich erfaßt, obwohl ich jetzt nicht in die Schule muß und in
die Arbeit erst in knapp sieben Stunden. Es ist diese Scheißangst vor diesen
entwürdigenden Situationen, wie sie bei solchen Veranstaltungen als
zwangsläufig erscheinen, obwohl sie es in Wirklichkeit überhaupt nicht sind.
Antrainiert durch die gewalttätige Schulpflicht vor allem, dabei jahrelangen
Entwürdigungen und Bloßstellungen und Entwertungen ausgesetzt. Ausgeübt von
Leuten, die glauben, die Schöpfung, die gut ist, be- und verurteilen zu können
oder zu müssen.
Diese Angst frißt sich in den Eingeweiden fest und hält
ständig einen gesundheitsschädlichen Alarmzustand aufrecht. Warum kann man,
frau, kind und teenager nicht einfach in die Schule und in die Arbeit gehen und
sich freuen, weil es ein interessanter Tag zu werden verspricht, neugierig auf
die Begegnungen mit Erfahrungen, Wissen, dem Lernen und Wachsen, den
Begegnungen mit Menschen, dort fröhlich die Talente einbringen, willkommen und geachtet und wo man grundsätzlich
einmal gut genug ist? Daß wir an diesen Orten nicht anständig behandelt werden,
ist – vor allem für Kinder und Jugendliche – wie ein Säureattentat auf die
Seele. Ständig.
Mit meinem inneren Auge blicke ich jetzt trauernd die
Jahrhunderte zurück, durch diese ganzen Schichten an abgelagertem „Du bist nur
Dreck!“ hindurch und sage nochmals: Ja, Staub. Aber Sternenstaub! Sternenstaub!
Und daß wir unsere Leiber wieder der lebendigen Erde
zurückgeben – obwohl wir es so nicht unbedingt müßten – ist kein Grund für
Feindseligkeit und Haß; schon gar nicht von Leuten, die selber die
Unendlichkeit nicht erreichen, sondern selber in Selbsttäuschung, Hochmut und
Eigendünkel verfangen sind. Nein, dieses „Bedenke oh Mensch“ müßte keine
Drohung sein und bräuchte nicht Angststarre und Schuld erzeugen, sondern könnte
das Herz öffnen für den Augenblick, für das Jetzt.
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