Dienstag, 2. Februar 2016

282 Wundertäterfragment 3

Wie wäre es damit: der Wundertäter vollbringt doch ein Wunder, ein einziges. Er sammelt und spart seine ganze Wunderkraft auf, er staut seine ganze Energie für dieses eine Wunder: seinen Schöpfer und Erfinder, Daniil Charms, der unter Stalin im damaligen Leningrad im Gefängnis saß, während die Hitlertruppen die Stadt neunundzwanzig Monate belagerten und gezielt und mit Absicht eine furchtbare Hungersnot auslösten, wo über eine Million Zivilisten verhungerten und sich keiner mehr um die Insassen der Gefängnisse kümmerte, so daß auch sie verhungerten, zu retten. Ein äußerst schwieriges Wunder, Daniil Iwanowitsch Juwatschow vor Stalins Schergen, die ihm defätistische Propaganda vorwarfen und ihn auch der jüdischen Herkunft «verdächtigten», zu retten, aber so, daß er nicht den deutschen Belagerern in die Hände fällt!

Oh! Eine geniale Idee! Die Leser werden staunen! Die Geschichte kann sich so entwickeln wie vorgesehen, denn ich lasse das Wunder erst am Schluß geschehen. Die Leser/innen werden total überrascht sein. Diese Wendung wird niemand und nieweibd erwartet haben, weil es vorher keine Andeutung gibt. Das wird einen Schock auslösen, einen heilsamen. Das wird das Leben von fünfunddreißig Prozent meiner Leserschaft ändern! Oh, genial! Aaaah!

Am Schluß des Romans oder am Schluß des Lebens des Wundertäters? Opfert er sein Leben bei diesem Wunder, indem er all seine Kraft hergibt? Überlebt er sein Wunder nicht? Dann wäre er eher jung gestorben und ich bräuchte nur die kurze Zeit von — sagen wir — dreißig bis dreiunddreißig beschreiben.

Und wenn man es so sieht: Der Wundertäter gibt sein Leben für seinen Erzeuger hin? Nein, das wäre eine falsche Perspektive. Nein, das ist keine gute Idee, denn daß Söhne ihr Leben für ihre Väter opfern, kommt öfters vor und ist beschissen.

Aber der Wundertäter ist nicht der Sohn von Charms, sondern seine Idee, sein Werk. Das Werk wächst über seinen Schöpfer hinaus und diesen gelingt der «Salto ins Unvorstellbare» (Carlos Castaneda). Ja, ja, ja! So ist es! So ist es super! Toll!

Aber dieses Wunder darf die Figur des Wundertäters vorher nicht beeinflußen. Er muß ganz klar der Wundertäter ohne Wunder bleiben. Aber nein, nein! Das geht nicht! Kein Wunder: ja, aber beeinflußt schon, nämlich seine innere Haltung. Genau, das Aufschieben erklärt doch seine Zurückhaltung und Selbstdisziplin wunderbar: er sammelt alle seine Kraft für dieses eine, eigentlich unmögliche Wunder. Er ist dabei ganz, ganz bewußt, ganz, ganz entschieden, nichts mit eingebremst und geschockt, nichts mit eingeschüchtert und verloren; nein, er hat ein glasklares Ziel. Er ist in jedem Moment seines Lebens ein Wundertäter, der sich zurückhält.

Das wird nicht leicht werden, ihn so zu beschreiben.
Ich könnte einen Erzähler einführen, der weiß, daß der Wundertäter ein Wundertäter ist, aber nichts von dem kommenden Wunder ahnt und erstaunt ist, daß der Wundertäter nichts gegen die Unbill macht, der er ausgesetzt ist. Wie Charms schreibt: ein Fingerschnipsen und schon hat er eine ordentliche Wohnung. Der Pöbel, der den Wundertäter quält, weiß nichts von dessen Kraft, nicht bewußt; unbewußt vielleicht schon, denn der Neid darauf nährt ja seinen Haß. Der Erzähler weiß es, darum wundert es sich über die selbstauferlegte Wehrlosigkeit. Erst zum Schluß offenbart sich das Geheimnis.

Wie ist dann das Leben des Wundertäters? Greift er ins Leben ein? Ich meine, hilft er zum Beispiel einer bedrängten Frau? Ohne Wunder, auf normale Art? Da könnte er sehr viel Unangenehmes auf sich ziehen — und gleichzeitig etwas dualitätsabweisendes ausstrahlen, was die Schergen der Dualität erst recht zu Aggressionen anstachelt.

Die Rettung von Daniil Charms sollte nicht zu schwer zu beschreiben sein: mit einer Energiekörperreise kann er an jeden Ort dieses Universums, an Orte in anderen Welten, zu seiner Zeit, oder in jede andere Zeit, ob Vergangenheit, ob Zukunft, gebracht werden, oder überhaupt mit seinem ganzen Körper in die Unendlichkeit. Wohin, ich glaube, das kann ich offen lassen. Vielleicht nur die Möglichkeiten einer solchen Reise mit dem Energiekörper — der gesamte, auch der irdische Körper kann dabei gänzlich in Energie verwandelt und zum Traumkörper hinzugefügt werden — kurz andeuten. Beide, natürlicher und «übernatürlicher» Körper sausen als vereinigte, reine Energie davon. Genau! Und der Wundertäter fliegt auch mit! Jaaaa! Das wäre der logischste, klarste und eindeutigste Abgang! Abgang per Himmelfahrt (oder auch woanders hin; nur muß es nicht immer Amerika sein). Ein wunderschöner Abgang, ein wunderschöner Schluß!

Ich freue mich so, ich freue mich so, auch für Daniil Charms!













©Peter Alois Rumpf  Februar 2016    peteraloisrumpf@gmail.com


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