282 Wundertäterfragment 3
Wie wäre es damit: der Wundertäter vollbringt doch
ein Wunder, ein einziges. Er sammelt und spart seine ganze Wunderkraft auf, er
staut seine ganze Energie für dieses eine Wunder: seinen Schöpfer und Erfinder,
Daniil Charms, der unter Stalin im damaligen Leningrad im Gefängnis saß,
während die Hitlertruppen die Stadt neunundzwanzig Monate belagerten und
gezielt und mit Absicht eine furchtbare Hungersnot auslösten, wo über eine
Million Zivilisten verhungerten und sich keiner mehr um die Insassen der
Gefängnisse kümmerte, so daß auch sie verhungerten, zu retten. Ein äußerst
schwieriges Wunder, Daniil Iwanowitsch Juwatschow vor Stalins Schergen, die ihm
defätistische Propaganda vorwarfen und ihn auch der jüdischen Herkunft
«verdächtigten», zu retten, aber so, daß er nicht den deutschen Belagerern in
die Hände fällt!
Oh! Eine geniale Idee! Die Leser werden staunen! Die
Geschichte kann sich so entwickeln wie vorgesehen, denn ich lasse das Wunder
erst am Schluß geschehen. Die Leser/innen werden total überrascht sein. Diese
Wendung wird niemand und nieweibd erwartet haben, weil es vorher keine
Andeutung gibt. Das wird einen Schock auslösen, einen heilsamen. Das wird das
Leben von fünfunddreißig Prozent meiner Leserschaft ändern! Oh, genial! Aaaah!
Am Schluß des Romans oder am Schluß des Lebens des
Wundertäters? Opfert er sein Leben bei diesem Wunder, indem er all seine Kraft
hergibt? Überlebt er sein Wunder nicht? Dann wäre er eher jung gestorben und
ich bräuchte nur die kurze Zeit von — sagen wir — dreißig bis dreiunddreißig
beschreiben.
Und wenn man es so sieht: Der Wundertäter gibt sein Leben
für seinen Erzeuger hin? Nein, das wäre eine falsche Perspektive. Nein, das ist
keine gute Idee, denn daß Söhne ihr Leben für ihre Väter opfern, kommt öfters
vor und ist beschissen.
Aber der Wundertäter ist nicht der Sohn von Charms, sondern
seine Idee, sein Werk. Das Werk wächst über seinen Schöpfer hinaus und diesen
gelingt der «Salto ins Unvorstellbare» (Carlos Castaneda). Ja, ja, ja! So ist
es! So ist es super! Toll!
Aber dieses Wunder darf die Figur des Wundertäters vorher
nicht beeinflußen. Er muß ganz klar der Wundertäter ohne Wunder bleiben. Aber
nein, nein! Das geht nicht! Kein Wunder: ja, aber beeinflußt schon, nämlich
seine innere Haltung. Genau, das Aufschieben erklärt doch seine Zurückhaltung
und Selbstdisziplin wunderbar: er sammelt alle seine Kraft für dieses eine,
eigentlich unmögliche Wunder. Er ist dabei ganz, ganz bewußt, ganz, ganz
entschieden, nichts mit eingebremst und geschockt, nichts mit eingeschüchtert
und verloren; nein, er hat ein glasklares Ziel. Er ist in jedem Moment seines
Lebens ein Wundertäter, der sich zurückhält.
Das wird nicht leicht werden, ihn so zu beschreiben.
Ich
könnte einen Erzähler einführen, der weiß, daß der Wundertäter ein Wundertäter
ist, aber nichts von dem kommenden Wunder ahnt und erstaunt ist, daß der
Wundertäter nichts gegen die Unbill macht, der er ausgesetzt ist. Wie Charms
schreibt: ein Fingerschnipsen und schon hat er eine ordentliche Wohnung. Der
Pöbel, der den Wundertäter quält, weiß nichts von dessen Kraft, nicht bewußt;
unbewußt vielleicht schon, denn der Neid darauf nährt ja seinen Haß. Der
Erzähler weiß es, darum wundert es sich über die selbstauferlegte
Wehrlosigkeit. Erst zum Schluß offenbart sich das Geheimnis.
Wie ist dann das Leben des Wundertäters? Greift er ins Leben
ein? Ich meine, hilft er zum Beispiel einer bedrängten Frau? Ohne Wunder, auf
normale Art? Da könnte er sehr viel Unangenehmes auf sich ziehen — und
gleichzeitig etwas dualitätsabweisendes ausstrahlen, was die Schergen der
Dualität erst recht zu Aggressionen anstachelt.
Die Rettung von Daniil Charms sollte nicht zu schwer zu
beschreiben sein: mit einer Energiekörperreise kann er an jeden Ort dieses
Universums, an Orte in anderen Welten, zu seiner Zeit, oder in jede andere
Zeit, ob Vergangenheit, ob Zukunft, gebracht werden, oder überhaupt mit seinem
ganzen Körper in die Unendlichkeit. Wohin, ich glaube, das kann ich offen
lassen. Vielleicht nur die Möglichkeiten einer solchen Reise mit dem
Energiekörper — der gesamte, auch der irdische Körper kann dabei gänzlich in
Energie verwandelt und zum Traumkörper hinzugefügt werden — kurz andeuten.
Beide, natürlicher und «übernatürlicher» Körper sausen als vereinigte, reine
Energie davon. Genau! Und der Wundertäter fliegt auch mit! Jaaaa! Das wäre der
logischste, klarste und eindeutigste Abgang! Abgang per Himmelfahrt (oder auch
woanders hin; nur muß es nicht immer Amerika sein). Ein wunderschöner Abgang,
ein wunderschöner Schluß!
Ich freue mich so, ich freue mich so, auch für Daniil Charms!
©Peter
Alois Rumpf Februar 2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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