176 Das Rollo
Lange bin ich durch die zähe Membran
nicht durchgekommen. Es gelang mir nicht, den Gedanken „aufwachen“
zu einem Entschluß zu formen und diesen dann zu einer Tat. Ich trieb
in märchenhaften Regionen herum – und märchenhaft heißt nicht
lieblich, denn fast alle echten Märchen erzählen grausame
Geschichten, von Ogren, die am liebsten Kinder fressen; von bösen
Hexen und bösen Zauberern, die Kinder und Jungfrauen und junge
Helden in häßliche oder böse Gestalten verwandeln, in Tiere, in
Steine, und was auch immer. Manchmal in Bäume – das kommt mir noch
am freundlichsten vor. Und von kaum zu besiegenden Ungeheuern aller
Art. Und von den vielen Versuchen, sich oder andere von der Verhexung
zu erlösen. Es gibt immer einen oder eine, dem oder der alleine oder
mit Hilfe anderer Menschen oder Tieren oder Bäumen, Blumen oder
guten Wesen aus transzendenten Welten die Erlösung gelingt, oder wo
der oder die gar nicht erst verzaubert wird, aber es sind meist
viele, die dabei scheitern, die verzaubert oder geköpft
werden und was es sonst noch so alles gibt. Die sich von ihrem Weg
haben abbringen lassen, weil sie den falschen Stimmen gehorcht, oder
zu viel Angst hatten, die befreiende Tat zu vollbringen, oder sich
von falschen Menschen – seien es Fremde oder Freunde, Geschwister
oder Verwandte, Kumpel oder weiß der Teufel wer – ja, der auch! -
reinlegen haben lassen. Oder weil sie zu eingebildet waren, um auf
die richtige Stimme zu hören, oder was auch immer...
In diesen Regionen trieb ich mich also
herum oder wurde herumgetrieben. Diesmal in eher harmlosen Gebieten,
soweit ich das beurteilen kann.
Ich kann mich an einen riesigen,
modernen Gebäudekomplex erinnern, in dem ich herumgeirrt bin. Alle
Stiegenhäuser waren miteinander verbunden, direkt, oder über kurze
oder lange Gänge, und so mußte ich auf meiner Suche das Gebäude
gar nicht verlassen. Was suchte ich? Eine bestimmte Wohnung, wo ich
vor Jahrzehnten in einer Wohngemeinschaft ein Zimmer gemietet hatte;
alles war schon abgesprochen, aber dann wollte eine Frau nicht, daß
ich bei ihnen einziehe und so kam das Ganze nicht zustande. Ich
brauchte jetzt keine Wohnung, ich wollte nur – zufällig in dieser
Gegend – sozusagen meiner Vergangenheit einen Besuch abstatten.
Ich fand die Wohngemeinschaft
tatsächlich und trat bei den Leuten ein. Es war eine moderne Wohnung
– und modern heißt in meinen Träumen immer Architektur aus den
späten Fünfziger oder Sechzigerjahren. Die Wohnung war etwas
vernachlässigt, die Teppichböden hatten Flecken, alles wirkte ein
wenig schmierig. Ein leichter, aber typischer Geruch, wie er
entsteht, wenn moderne Räume heruntergekommen sind: muffige Luft,
aber eher trocken, nicht feucht wie in Altbauten; die Ausdünstung
moderner, aber schon überständiger Materialien, und
interessanterweise auch der Geruch nach Ameisensäure.
In der realen Welt habe ich keine
Ahnung, ob und wie Ameisensäure riecht. Im Traum konnte ich diesen
Geruch identifizieren. Obwohl ich im Traum nichts riechen konnte,
wußte ich, da ist der Geruch von Ameisensäure! Ja, so ist das
Träumen.
Wir saßen zusammen und plauderten von
den alten Zeiten. Da fand ich dort noch Sachen von mir, die ich in
Erwartung meines baldigen Einzugs damals schon hingebracht hatte und
will sie jetzt mitnehmen. Und wieder ist es diese Frau, die das als
ungerecht, als falsch empfindet. Sie sagt, das stünde mir nicht mehr
zu. Ich überlege mir noch, wie das rechtlich ist; wann ein
Gegenstand endgültig in den Besitz derer übergeht, bei denen man
ihn liegengelassen hat. Ich weiß es nicht und nehme mir vor,
nachzuschauen oder mich zu erkundigen. Nicht umsonst habe ich auf der Uni auch
Kirchenrecht gehört – so denke ich.
Ich kann mich nicht erinnern, was das
für Gegenstände waren. Ich ahne etwas von einer Karte und großen,
schlangenartigen Gummidichtungen. (Geht es dabei um ein Hilfsmittel
zur Orientierung in meinem ewigen Herumirren? Und ums Abdichten der
Sprünge in meiner Gestalt? Zu weit hergeholt? Ich weiß nicht,
vielleicht.) Plötzlich reißt mich etwas an die Oberfläche, die
zuvor so zähe Membran ist gar nicht mehr spürbar.
Jetzt aber regnet es leicht und ich
empfinde den Regen erlösend. Die Luft im Zimmer ist immer noch heiß,
aber alleine das Geräusch der auffallenden Regentropfen erleichtert
die gedrückte Seele.
Schulmeisterlich schaue ich mich um.
Ich weiß zwar nicht, was das heißen soll - schulmeisterlich, aber dieses Wort ist
mir eingefallen, als ich mein Schauen beschreiben wollte. …
Vermutlich heißt es bewertend, be- und verurteilend; ich schaue als
ein hochmütiger Lehrer auf die Welt, der sich einbildet, alles
benoten und bewerten zu können, alles kritisieren zu dürfen, und
Menschen und Dinge bloßstellen.
Ich ziehe das Rollo hoch, damit mehr
kühle Luft von draußen hereinströmen kann. Dann warte ich auf die
frische Luft, und als sie einströmt, nehme ich sie in tiefen
Atemzügen auf.
Eine Katze will herein und kratzt an
der ehemaligen Durchreiche – mein Zimmer war einmal eine Küche –
aber ich mag mich noch nicht auf irdische Wesen einlassen.
Die Finger meiner linken Hand -
diese liegt auf dem Notizbuch,
um es fürs Schreiben festzuhalten - haben eine Aura aus weißlichem
Licht, die wieder verblaßt, wenn ich zu lange und zu direkt
hinschaue. „Verblaßt“ ist eigentlich das falsche Wort, denn die
hellere weiße Aura „verdunkelt“ sich zum dünkleren Weiß des
Papierblattes; ein Weiß, das nicht leuchtet und strahlt wie die
Aura.
Aber
wenn ich von neuem hinschaue, sehe ich wieder um meine Finger das
strahlende, weiße Leuchten. Ich kann das mehrmals wiederholen, bis
es gar nicht mehr geht. Jetzt sehe ich bloß die Schatten bei meinen
Fingern auf dem Papier.
Am
Surren in den Ohren merke ich, daß die Traumwelt noch nicht weit weg
ist und noch in meine Realität wirkt.
Wieder
atme ich tief die frische, kühlere Luft ein und bin hier ganz
zufrieden. Mein Eindruck ist, daß sich die Dinge immer besser
entwickeln. Ein durchaus bekannter, aber seltener Optimismus erfaßt
mich, begleitet von einer Ruhe, die jedes Gejage verhindert.
Jetzt
habe ich bei meinem linken, halbierten Daumen das weiße Leuchten
gesehen! Ist das wirklich die Aura? Müßte da nicht das Leuchten den
ganzen Daumen zeigen? Es war zu kurz, um das zu überprüfen, und
jetzt gelingt es nicht mehr, das Leuchten zu sehen. Ich lasse das auf
sich beruhen, ich werde schon noch dahinter kommen.
Jetzt
mag ich aufstehen und frühstücken. Ich liebe es, stehend einen
Bissen und einen Schluck zu nehmen, mich auf den Schemel zu setzen,
das Ganze schweigend dreißig bis fünfzigmal zu kauen und dann
andächtig hinunterzuschlucken.
©Peter
Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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