Mittwoch, 2. September 2015

176 Das Rollo


Lange bin ich durch die zähe Membran nicht durchgekommen. Es gelang mir nicht, den Gedanken „aufwachen“ zu einem Entschluß zu formen und diesen dann zu einer Tat. Ich trieb in märchenhaften Regionen herum – und märchenhaft heißt nicht lieblich, denn fast alle echten Märchen erzählen grausame Geschichten, von Ogren, die am liebsten Kinder fressen; von bösen Hexen und bösen Zauberern, die Kinder und Jungfrauen und junge Helden in häßliche oder böse Gestalten verwandeln, in Tiere, in Steine, und was auch immer. Manchmal in Bäume – das kommt mir noch am freundlichsten vor. Und von kaum zu besiegenden Ungeheuern aller Art. Und von den vielen Versuchen, sich oder andere von der Verhexung zu erlösen. Es gibt immer einen oder eine, dem oder der alleine oder mit Hilfe anderer Menschen oder Tieren oder Bäumen, Blumen oder guten Wesen aus transzendenten Welten die Erlösung gelingt, oder wo der oder die gar nicht erst verzaubert wird, aber es sind meist viele, die dabei scheitern, die verzaubert oder geköpft werden und was es sonst noch so alles gibt. Die sich von ihrem Weg haben abbringen lassen, weil sie den falschen Stimmen gehorcht, oder zu viel Angst hatten, die befreiende Tat zu vollbringen, oder sich von falschen Menschen – seien es Fremde oder Freunde, Geschwister oder Verwandte, Kumpel oder weiß der Teufel wer – ja, der auch! - reinlegen haben lassen. Oder weil sie zu eingebildet waren, um auf die richtige Stimme zu hören, oder was auch immer...

In diesen Regionen trieb ich mich also herum oder wurde herumgetrieben. Diesmal in eher harmlosen Gebieten, soweit ich das beurteilen kann.
Ich kann mich an einen riesigen, modernen Gebäudekomplex erinnern, in dem ich herumgeirrt bin. Alle Stiegenhäuser waren miteinander verbunden, direkt, oder über kurze oder lange Gänge, und so mußte ich auf meiner Suche das Gebäude gar nicht verlassen. Was suchte ich? Eine bestimmte Wohnung, wo ich vor Jahrzehnten in einer Wohngemeinschaft ein Zimmer gemietet hatte; alles war schon abgesprochen, aber dann wollte eine Frau nicht, daß ich bei ihnen einziehe und so kam das Ganze nicht zustande. Ich brauchte jetzt keine Wohnung, ich wollte nur – zufällig in dieser Gegend – sozusagen meiner Vergangenheit einen Besuch abstatten.

Ich fand die Wohngemeinschaft tatsächlich und trat bei den Leuten ein. Es war eine moderne Wohnung – und modern heißt in meinen Träumen immer Architektur aus den späten Fünfziger oder Sechzigerjahren. Die Wohnung war etwas vernachlässigt, die Teppichböden hatten Flecken, alles wirkte ein wenig schmierig. Ein leichter, aber typischer Geruch, wie er entsteht, wenn moderne Räume heruntergekommen sind: muffige Luft, aber eher trocken, nicht feucht wie in Altbauten; die Ausdünstung moderner, aber schon überständiger Materialien, und interessanterweise auch der Geruch nach Ameisensäure.
In der realen Welt habe ich keine Ahnung, ob und wie Ameisensäure riecht. Im Traum konnte ich diesen Geruch identifizieren. Obwohl ich im Traum nichts riechen konnte, wußte ich, da ist der Geruch von Ameisensäure! Ja, so ist das Träumen.

Wir saßen zusammen und plauderten von den alten Zeiten. Da fand ich dort noch Sachen von mir, die ich in Erwartung meines baldigen Einzugs damals schon hingebracht hatte und will sie jetzt mitnehmen. Und wieder ist es diese Frau, die das als ungerecht, als falsch empfindet. Sie sagt, das stünde mir nicht mehr zu. Ich überlege mir noch, wie das rechtlich ist; wann ein Gegenstand endgültig in den Besitz derer übergeht, bei denen man ihn liegengelassen hat. Ich weiß es nicht und nehme mir vor, nachzuschauen oder mich zu erkundigen. Nicht umsonst habe ich auf der Uni auch Kirchenrecht gehört – so denke ich.

Ich kann mich nicht erinnern, was das für Gegenstände waren. Ich ahne etwas von einer Karte und großen, schlangenartigen Gummidichtungen. (Geht es dabei um ein Hilfsmittel zur Orientierung in meinem ewigen Herumirren? Und ums Abdichten der Sprünge in meiner Gestalt? Zu weit hergeholt? Ich weiß nicht, vielleicht.) Plötzlich reißt mich etwas an die Oberfläche, die zuvor so zähe Membran ist gar nicht mehr spürbar.

Jetzt aber regnet es leicht und ich empfinde den Regen erlösend. Die Luft im Zimmer ist immer noch heiß, aber alleine das Geräusch der auffallenden Regentropfen erleichtert die gedrückte Seele.
Schulmeisterlich schaue ich mich um. Ich weiß zwar nicht, was das heißen soll - schulmeisterlich, aber dieses Wort ist mir eingefallen, als ich mein Schauen beschreiben wollte. … Vermutlich heißt es bewertend, be- und verurteilend; ich schaue als ein hochmütiger Lehrer auf die Welt, der sich einbildet, alles benoten und bewerten zu können, alles kritisieren zu dürfen, und Menschen und Dinge bloßstellen.

Ich ziehe das Rollo hoch, damit mehr kühle Luft von draußen hereinströmen kann. Dann warte ich auf die frische Luft, und als sie einströmt, nehme ich sie in tiefen Atemzügen auf.

Eine Katze will herein und kratzt an der ehemaligen Durchreiche – mein Zimmer war einmal eine Küche – aber ich mag mich noch nicht auf irdische Wesen einlassen.

Die Finger meiner linken Hand - diese liegt auf dem Notizbuch, um es fürs Schreiben festzuhalten - haben eine Aura aus weißlichem Licht, die wieder verblaßt, wenn ich zu lange und zu direkt hinschaue. „Verblaßt“ ist eigentlich das falsche Wort, denn die hellere weiße Aura „verdunkelt“ sich zum dünkleren Weiß des Papierblattes; ein Weiß, das nicht leuchtet und strahlt wie die Aura.
Aber wenn ich von neuem hinschaue, sehe ich wieder um meine Finger das strahlende, weiße Leuchten. Ich kann das mehrmals wiederholen, bis es gar nicht mehr geht. Jetzt sehe ich bloß die Schatten bei meinen Fingern auf dem Papier.

Am Surren in den Ohren merke ich, daß die Traumwelt noch nicht weit weg ist und noch in meine Realität wirkt.

Wieder atme ich tief die frische, kühlere Luft ein und bin hier ganz zufrieden. Mein Eindruck ist, daß sich die Dinge immer besser entwickeln. Ein durchaus bekannter, aber seltener Optimismus erfaßt mich, begleitet von einer Ruhe, die jedes Gejage verhindert.

Jetzt habe ich bei meinem linken, halbierten Daumen das weiße Leuchten gesehen! Ist das wirklich die Aura? Müßte da nicht das Leuchten den ganzen Daumen zeigen? Es war zu kurz, um das zu überprüfen, und jetzt gelingt es nicht mehr, das Leuchten zu sehen. Ich lasse das auf sich beruhen, ich werde schon noch dahinter kommen.

Jetzt mag ich aufstehen und frühstücken. Ich liebe es, stehend einen Bissen und einen Schluck zu nehmen, mich auf den Schemel zu setzen, das Ganze schweigend dreißig bis fünfzigmal zu kauen und dann andächtig hinunterzuschlucken.











©Peter Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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