3898 Schimmernde Sterne
16:56. Ich blicke in die Finsternis hinaus, der Himmel beleuchtet von der verdoppelten Spiegelung der einen aufgedrehten Deckenlampe. Fast alle Fenster der Häuser gegenüber sind noch dunkel. Es spiegeln sich natürlich auch andere Gegenstände und Situationen des Musikzimmers in den Fensterscheiben und die Scheinwerfer der unten vorbeifahrenden Autos, welche ich am Schreibtisch sitzend nicht sehen kann. Ich lese gerade am Handy, dass Narzissmus und Konformität Selbstliebe als Illusion und Befreiung von Richard Schuberth beim Lhotzky zur Abholung bereit liegt. Gleich hingehen oder morgen? Morgen! Ich war heute noch nicht draußen und will es dabei belassen.
Immer, wenn ich meinen Blick hebe, halte ich für einen Bruchteil einer Sekunde die Spiegelung der Deckenlampe für den Mond (was sagt das über meine lebensgeschichtliche Mutterbeziehung?). Musik gefällig? Ist beim Schreiben nicht so meine Art, aber wenn ich schon hier im Musikzimmer sitze? Warum nicht? Vielleicht ein Fünfziger-Jahre Miles Davis? Und frühe Sechzigerjahre: Facets. Ich mag die Platte. Und sie bestätigt mir mein Vorurteil, dass der Jazz aus dieser Zeit dazu dient, sich in der Welt der Langeweile, der Funktionalität und der verlorenen Illusionen irgendwie einzurichten und wenn die Musik gut ist, wird der Schmerz über den Verlust spürbar, auch wenn fröhlich darüber hinweggedudelt wird. Und dazu passend fällt mein Blick auf das sichtlich nachträglich verputzte Loch der entfernten Steckdose in der Wand, noch von einem blauen, recht schönen, zarten Walzenmuster umgeben. Die Musik wirbelt hinter mir den Luftraum und in mir meine Aufmerksamkeit auf, noch dazu, wo sich die kleinen Kratzer in der Elpie bemerkbar machen. Ich drehe die Musik leiser, um sie mehr im Hintergrund zu halten. Ich stehe auch auf, trete ans Fenster und schaue hinunter auf den kleinen dreieckigen Platz: die drei Säulengleditschien recken ihre kahlen Äste vergeblich in die Mondnacht – hätte ich beinah geschrieben, bis mir einfällt, dass das die Spiegelung der Deckenlampe ist. Es bewegt sich gerade nichts dort unten (sprachlos und kalt). Direkt unter der Straßenlampe kann die eine Säulengleditschie ein paar Blätter an den Zweigen halten (weil dort mehr Licht ist?). Jetzt sehe ich unten ein paar Wanderer durch ihr Leben gehen, aber in verschiedene Richtungen, jeder für sich und Gott gegen alle (ich habe nicht mehr gewußt, dass das ein Werner-Herzog-Film ist, ich dachte an einen Italowestern! Dabei ist dieser Filmtitel seit Jahrzehnten in meinem Bewußtsein abgespeichert. Und ich habe mir den Film öfters angeschaut. Aber die Kaspar-Hauser-Geschichte passt auch sehr gut!). Das Jeder-für-sich stimmt natürlich nicht: es dürften auch einige irgendwie zusammengehört haben (das Vorbeigehen passiert ja zu schnell, als dass ich Soziologie und Gruppendynamik der PassantInnen so schnell erfassen könnte). Allmählich werden der beleuchteten Fenster mehr. Die erste Seite der Elpie ist fertig; ich drehe die Platte nicht um; ich hebe mir die zweite Seite für später auf (in deinem Alter riskant! - der innere Spötter). Ich räume alles weg, drehe das Licht ab und sehe, die nachtleuchtende Sternenkarte für Einsteiger – einfach drehen, sicher erkennen – die am Schreibtisch liegt, hat genug Licht abbekommen, sodass ihre Sterne zurückhaltend und bescheiden in die Dunkelheit schimmern können.
(10.12.2024)
©Peter Alois Rumpf Dezember 2024 peteraloisrumpf@gmail.com
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