Montag, 5. August 2024

3742 Die Angst des Dalit vorm Frühstücken in einem feinen Hotel

 



9:11 a.m. Die Angst des Dalit vorm Frühstücken in einem feinen Hotel, ohne Hotelgast zu sein. Aber nachdem er etwas gegessen hat, fühlt er sich besser, und noch besser, als er sein Notizbuch herausgenommen hat und zu schreiben begonnen. Der vierte Cappuccino tut auch irgendeine Wirkung.

Es ist nämlich so – und ich empfinde das stärker und unausweichlicher denn je: in meinem Leben keine gültige Initiation in die bürgerliche - sagen wir: mittelständische – Gesellschaft zu haben. In ein Hotel frühstücken zugehen oder in ein feineres Restaurant ist für mich nicht drinnen: ich fühle mich schon beim Hingehen deplatziert, als würde ich mir etwas anmaßen, extrem verunsichert: pickt irgendwo noch ein Zahnpastafleck? Habe ich wirklich meine Nase gründlich geputzt oder habe ich noch einen sichtbaren Nasenrammel? Stinke ich irgendwie? Und diese Befürchtungen habe ich auch nach gründlicher Dusche am Morgen. Ist meine Kleidung gesellschaftlich akzeptabel? Wie verhält man sich, wenn ...

Das kann sich niemand vorstellen, der von und in seiner Familie „normal“ sozialisiert ist und – egal wie er innerhalb seiner Herkunftsfamilie gesehen wurde – über seine Familie einen höheren gesellschaftlichen Status mit all seinen Selbstverständlichkeiten erhalten und geerbt hat, zum Beispiel, dass es selbstverständlich ist, in ein Restaurant zu gehen, dass es selbstverständlich ist, einem Arbeiter, Dienstleister und ähnlichen Aufträge zu erteilen und Arbeit anzuschaffen und zu kontrollieren et cetera et cetera. Da hilft mir selbst mein Studium nichts, wie auch Götz Aly beschreibt, wenn ein Aufsteiger mit unendlich größeren Mühen – auch der Kontakt mit Professoren, mit mittel- und oberschichtigen Mitstudenten, die immer von ihresgleichen ausgehen und die Nöte und Qualen eines potentiellen Aufsteigers nicht wahrnehmen können, ist nicht selbstverständlich und sehr angstbesetzt – sein Studium geschafft hat, dann weiß er immer noch nicht, wie man mit goldenem Besteck isst (das habe ich aus dem Gedächtnis wiedergegeben und ist kein genaues Zitat). Wenn mich meine Frau nicht in dieses Hotel geschleppt hätte, hätte ich es niemals geschafft, dort hinzugehen und es wäre mir, ohne eingeladen zu sein, auch nicht möglich.

Dazu gehört auch, dass ich in den ersten zwanzig Minuten beim Frühstückbuffet die Hälfte gar nicht gesehen habe – der Stress hat meine Wahrnehmungsfähigkeit extrem eingeschränkt, auch nur herumzugehen und die Nahrung zusammenzusuchen, war voller Angst, zum Beispiel die Kaffeemaschine falsch zu bedienen oder die Anleitung nicht zu verstehen, das falsche Besteck zu nehmen, irgendwelche unmöglichen Kombinationen von Speisen auf meinen Teller zu legen oder mich sonst irgendwie falsch oder unangebracht zu verhalten. So habe ich nicht gesehen, dass neben dem Brot und Gebäck Schneidbrett und ein Brotmesser bereit liegen, mit dem ich mein Gebäck einfach und problemlos aufschneiden hätte können.

Und auch in meiner Herkunftsschicht - die im übrigen gar nicht so leicht zu bestimmen ist, da familienintern widersprüchlich - bin ich als potentieller Verräter gefährdet – das haben sie mir schon in meiner Kindheit gezeigt - erst recht, weil ich den gesellschaftlichen Aufstieg eben nicht geschafft habe. Deswegen bin ich ja Paria und gehöre keiner Kaste an.

Ich gestehe, dass ich das manchmal schon so satt habe! Mir bleibt entweder in meinen kleinen Grenzen zu bleiben – meistens kompensatorisch überhöht mit falscher Bescheidenheit – also solche Orte gar nicht erst aufzusuchen - oder verzweifelt und zornig zu werden, oder gar voller Hass, und all den Selbstbewußten und Selbstverständlichen rundherum zu wünschen, dass sie mit ihren Gesichtern an eine Betonmauer gerieben werden. Es kostet viel seelische Energie und geistige Arbeit, sich jedesmal aus dieser Wut, dieser Verzweiflung herauszuarbeiten und ein einigermaßen praktikables und weniger destruktives seelisches Gleichgewicht zu finden und zu halten.

Wie gesagt: durchs Schreiben gewinne ich etwas Boden, auch wenn meine Texte nur so eine, zwei, drei LeserInnen haben, auch wenn ich nicht weiß, wo dieser Boden sein soll, aber vielleicht trage ich mit der Schreiberei als solche dazu bei, dass irgendetwas im Universum bewußter werden und nun benannt werden kann, so wenig es auch sei.




(5.8.2024)

©Peter Alois Rumpf August 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite