Donnerstag, 4. Juli 2024

3723 Das Baguette

 



Vormittag. Ohne Uhrzeit (ich habe das Handy zu Hause beim Aufladen). Der Wind bläst immer wieder ins Lokal herein und in meinem Kopf läuft „Never Marry a Railroad Man“ von Shocking Blue, allmählich und leise überlagert von der dezenten Lokalmusik - funky, jazzig könnte man sagen – um dann überhaupt abgelöst zu werden von „Sitting on the Dock of the Bay“ von Otis Redding, das nun aus den Boxen kommt und sich in meinem Kopf festsetzt. Jetzt aber wird es schon fast sentimental, aber gerade noch eine schöne und herzerwärmende Musik, keine Ahnung von wem.

Die Stadt-Wien-Fahnen – sanftfarbig und nicht schreiend machen sie auf irgendetwas aufmerksam, das ich nicht entziffern kann – reißt es heftig hin und her, sie umwickeln vermutlich unfreiwillig ihre Fahnenstangen, verheddern sich, befreien sich wieder, bemerken, dass sie trotz allem festhängen und blähen sich im Wind auf „korrekte“ Weise auf. Der Wind bläst durchs Lokal, weil die beiden gegenüber liegenden Türen (seit wann liegen Türen? - der innere Spötter) offen sind und den angenehmen Luftzug durchlassen, was so eine sommerliche, ferienhafte Atmosphäre schafft, obwohl es gar nicht heiß ist. Nun gibt es coolen Jazz im Lokal, keine Ahnung wer, welche Richtung und aus welcher Zeit. Die bunten Bilder und Elemente hier haben schon was; meine Fremdspracheninkompetenz ist beschämend. Mein Gott! Was ich in meiner Jugend alles versäumt habe! Ich sollte auf solche Gedanken nicht einsteigen, aber wie ich heute auf meinem T-Shirt stehen habe: „Ich kann nicht grüßen“. Was für eine Sehnsucht nach … wonach eigentlich? Nach Kontakt? Zugehörigkeit? Jaaa … (zögerlicher Tonfall!) … am ehesten nach Selbstverständlichkeit. Aber wieso? Scheiß drauf! Grenzwertig fröhliche Musik, die mir schnell auf die Nerven gehen kann. Es gibt so viele Menschen und ich habe keine Ahnung. Ich blicke herum und sehe nichts. Na und?! Du mußt deine Mission nicht verstehen (vielleicht gibt es keine, oder keine spezielle – der Tipper).

11:42 a.m. (Mir ist erst jetzt die Würfeluhr am Marktplatz eingefallen.) Ich bleibe einfach noch sitzen. Ich mag mich nicht weiterbewegen. Ich habe viel Zeit (ha! ha! ha! - Bruder Hain). Ich betrachte wieder die Fahnen im Wind, die offensichtlich nicht klirren (es ist ja auch Sommer – auch wenn mein Lebenssommer vorbei ist und vom döbranitischen Vulkanausbruch seine Jahrzehnte lang verdüstert und winterlich war). Der Wind, der Wind, das himmlische Kind, treibt meine Gedanken geschwind.

Schöne melancholische Musik, ohne sich in unangebrachte Sentimentalität gehen zu lassen. Die eine Fahne ist grotesk verdreht; die Chefin wischt die Kreidetafel ab. Ich betrachte ein wenig die Blumen am Tisch. Die Chefin schreibt jetzt die Tafel mit dem Menüplan voll. Ich lächle angesichts der Szenen um mich still vor mich hin. „Grüße aus der alten Heimat“ sagt jemand im Scherz. Was ist meine alte Heimat, im Ernst? In dieser Welt finde ich sie nicht. Oder bin ich arrogant? (viel zuviel „ich, ich, ich“ – der innere Kritiker.) Ich bestelle meinen dritten Cappuccino, diesmal koffeinfrei (die aktuelle Koffeindosis scheint zu passen – wir wollen es nicht übertreiben). Genauer gesagt: ich habe vor zu bestellen, aber gehe ein bisschen dabei unter, auf mich und meine beabsichtigte Bestellung aufmerksam zu machen. Der Wind hat sich gedreht, die Fahnen zeigen es an. Bestellung geschafft. Langsam beruhigt sich mein Puls wieder. Aber jetzt merke ich, es beginnt hier das Mittagsgeschäft und ich werde wieder nervös, weil ich bloß mit meiner Tasse Cappuccino den Tisch besetze und versitze, wo zwei oder drei Mittagsessenesser Platz hätten. Ich bin doch ein Dalit, der sich in einem solchen Lokal – weil ohne gesellschaftlich anerkannte Initiation - gar nicht aufhalten dürfte! Der Wind wird stärker und meine Unruhe. Ich will mich zwingen, den Kaffee zu Ende zu genießen; dass ich dann gehen muß, ist klar. Ganz in der Weiten, auf der anderen Seite der Leopoldsgasse, setzt sich eine Frau im kleinen Gastgarten einer Bäckerei hin und beginnt zu essen. (Netter Versuch! Dich an Frauen und an deine furchtbaren Bäckervorfahren zu klammern, hilft nichts. Du bist nicht gerechtfertigt! - der innere Großinquisitor.) Ich werde zunehmend nervöser. Ich glaube, ich habe meine Anwesenheit hier überzogen (gilt das nur für hier, nicht überhaupt?). Die bald mittagsessenden Arbeiter – ich kann ihre Sprache nicht zuordnen: türkisch ist es nicht; eine slawische Sprache scheint es auch nicht zu sein, griechisch nicht, vielleicht rumänisch? - sie schauen aber nicht rumänisch aus – was nichts heißen muß – also: keine Ahnung! - die Arbeiter am Nebentisch sind von ihrer Arbeit gezeichnet - aufgeschundene Knie – und sehr freundlich. Ich benutze die Chance – ich dachte, das wäre eine gute Idee und super Gelegenheit, mich wichtig, „normal“ und menschenfreundlich zu machen und meine Dalitexistenz zu überspielen – und wünsche den beiden „Mahlzeit!“, aber erstens ist mir der servierende Kellner zuvorgekommen und ich habe dann entgegen meine Absicht, aber ohne mich noch rechtzeitig abbremsen zu können, das „Mahlzeit!“ nur nachgeplappert, und zweitens ist mein Zuruf - zu leise? Zu laut im Lokal? - irgendwie untergegangen. Ich will das jetzt nicht untersuchen, wieweit diese kleine Szene für mich lebenstypisch ist. Ich will trotz meiner Angst und des deswegen etwas unterwürfigen Kontaktierens und meinem etwas verlogenheitsgefährdetem Einbringen sitzen bleiben, auch wenn mein Versuch – vermutlich zu Recht – von der Schicksalsituation und/oder den Angesprochenen nicht angenommen werden kann und ins Leere stürzt.

Ich fühle mich schon sehr unwohl hier und schreibe um mein Leben. Mit meine Schreiberei versuche ich mich wenigstens am Rande des Lebens festzukrallen. Sei locker Freund! Scheiß drauf und geh deines Weges! Laß dich verjagen! - ob es wirklich die Leute sind oder deine Dämonen. Du darfst verlieren. Ich trinke nun ganz schnell den Kaffee aus und will, soll, werde zahlen. Mit einem reichlichen Trinkgeld kann ich mich vielleicht ein wenig in eine weitere Anwesenheit einkaufen. Vielleicht! Denn eigentlich ist das so einfach zu durchschauen und mein Pariastatus wird erst recht deutlich und ich selbst aufgeplattelt (ich schreibe es mit hartem p, weil ich es nicht von „Blatt“, sondern von „platt“ ableite – der innere Besserwisser).

Letzter Versuch: beim Weggehen grüße ich die vermutlich von meiner fragwürdigen Schicksalsaufgeladenheit überforderten Nachbartischnachbarn und der Gruß wird fast schüchtern erwidert.

Am Rückweg nach Hause spiele ich noch in der Hoffnung auf Rettung Lotto und kauf mir einen Falter und ein Baguette, und diese beiden unter meinen linken Arm geklemmt dahingehend kann ich mich doch noch in ein – sicherlich pubertär-lycéehaftes – hoffnungslos veraltetes frankophiles, pseudopoetisches Existentialistengefühl hineinsteigern.


(4.7.2024)


©Peter Alois Rumpf Juli 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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