Donnerstag, 27. Juni 2024

3714 Die Riesenbirke

 



15:33. Noch ist Polen nicht verloren, aber „wir“ sind es noch weniger. Ich sitze auf einer Liege in einem befreundeten Garten, der Verkehrslärm der Durchzugsstraße aus mittlerer Entfernung läßt sich zur Not auch als „Waldesrauschen“ umdeuten und das Donauinselfest schallt ebenfalls bis hierher und täuscht (oder täuscht auch nicht) Lebendigkeit vor; jedenfalls in genau richtigem Abstand, dass es mich nicht nervös macht. „Wir lieben die, die an uns glauben“ hat ein österreichischer Fußballer in einem Interview gesagt (sorry! Ich weiß nicht mehr, ob es Herr Arnautovič oder Herr Baumgartner oder jemand anderer war) und ich war gleich berührt.

Ein niedrig fliegendes Propellerflugzeug dominiert für kurze Zeit die reichhaltige Schallwelt. Die riesige, stammstarke Birke dort drüben vorne links von mir läßt ihre Blattunterseiten in Wind und Sonnenlicht blinken (für eine Pappel ist mir die Rinde zu strahlend weiß) und wenn ich es nachmesse: ich schaue 126° SO. Der Himmel ist überwiegend blau, die Wolken sind harmlos, ein kleiner Käfer rast über den Gehweg. Ein Hund bellt, Kinder rufen, reden, spielen und schreien.

Jetzt ist es hier ruhig. Der Hollerbusch hinter der Hecke trägt schon ein paar dunkelrote rispige Fruchtstände. Die Früchte der Roßkastanien scheinen auch schon ziemlich weit zu sein. Einen Mann mit weißem Plastiksackerl sehe ich nur in kleinen Fragmenten hinter der Hecke vorbeigehen – erstaunlich, dass sich das Bild trotzdem zusammensetzt. Ich huste, aber nicht so oft und nicht so schmerzhaft wie in der Nacht. Jetzt funktioniert das mit dem Waldrauschtrick nicht mehr: der Verkehrslärm ist zu deutlich und ohne beigemischten Wind zu eindeutig. Eine Ameise klettert über die linke Armlehne der von mir benutzten, aber nicht meinigen Liege. Ich bin nur Gast auf Erden und ruhe auf die letzte Wanderung zu. Überall bin ich nur Gast. Eine Taube ruft ganz heiser. Jetzt streift eine angenehme Brise über meine Haut, exakt gleichzeitig mit einem Folgetonhorn, ich weiß nicht welcher Institution, vielleicht die Feuerwehr. Vor mir rankt sich der Wein in einem schönen, freigestaltigen Bogen. Eine Krähe ruft. Eine kleine, fieberlose Fiebrigkeit staut sich zwischen meinen Augen. Die Musik vom Donauinselfest (wo ich noch nie war) mäandert und taumelt auf ihrem Weg hierher und verschwindet fast wieder in ständigem Hin und Her. Die Schwimmer kommen zurück (ja, ich weiß: ich habe gar nicht geschrieben, dass sie weggegangen sind – der innerer Bekenner) und nehmen den Raum ein, der mir sowieso nicht gehört. Wem gehört die Sitzbank? Wem gehört die Liege? Mir nicht. Ich könnte soetwas wie hier auch nicht mieten, erhalten, verwalten und warten und überhaupt dafür verantwortlich sein, und schon gar nicht erwerben.


(22.6.2024)


©Peter Alois Rumpf Juni 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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