Dienstag, 4. Juni 2024

3689 Drive

 



11:32 a.m. Im Aida mit rosa Stift zu schreiben ist doch passend und einfühlsam, oder? Ein paar Tische weiter rechts wird – sagen wir: theologisch diskutiert. Mein Herz schlägt gleich höher und ich schaue kurz zu den zwei Männern hin und – während sie über die Wiener Sängerknaben – wie gesagt: theologisch! - reden – schaut einer der zwei her und taxiert mich kurz, als wolle er mich abschätzen, ob ich mich darüber lustig machen könnte. Hat auch er Hemmungen, seinen Faible für Transzendenz (was immer das genau heißen mag – sehr schwammig, aber gut! Akzeptiert! Ist ja echt schwierig – der innere Kritiker) öffentlich zu zeigen, oder ist das meine Projektion? Vielleicht geht’s bei denen auch um einen Film. Ich habe den falschen Kaffee bestellt, er schmeckt mir überhaupt nicht. Ich sitze gerne an großen Fenstern, wo ich auf eine belebte Straße hinausschauen kann, auch wenn ich die Menschen und das Geschehen nicht wirklich gründlich beobachte, sondern nur so Blicke werfe. Wegen meiner Projektion belege ich die beiden Herren trotz aller meiner möglichen Bedenken und meiner unterstellenden, vorsichtigen Verdächtigungen über den sozialen, gesellschaftlichen, intellektuellen – in bin schon längst in schlechter Form – ideologischen und weiß der Teufel noch was alles – Abgrund hinweg eine hochfrequente, unsichtbare, dünnluftige, flüchtige Solidarität. Nur der unterstellten Transzendenz wegen!

(Der rosa Pilotstift ist leer und ich wechsle zu einem roten.) Ein Kind in seinem Buggy beugt sich ganz weit vor. Ein weißhaariger Mann hat seine Sonnenbrille hochgeschoben, ein anderer trägt sie herunten vor den Augen. Inzwischen habe ich in der Karte am Tisch die verschiedenen Kaffeeangebote studiert. Ein Mann in den besten Jahren – grauer Bart, lange, von grauen Strähnen durchzogene und zu einem Roßschwanz gebundene Haare, der schon länger hier herumgeht und mir wegen seiner extrem aufrechten Körperhaltung aufgefallen ist und weil er ständig suchend herumgeschaut hat und eine auffällige, ein wenig modisch-martialische Jacke, vielleicht Leder, die das Steife und Aufgerichtete des Oberkörpers verstärkt, tragend, ein wenig securitymäßig und an diesem schwülen Tag overdressed, der hat sich also auf eine Bank gesetzt, sehr selbstbewußt und weiter suchend herumblickend, als wäre er verabredet – wobei mir seine Augenbrauen doch eine gewisse Unsicherheit zu verraten scheinen, gewellt wie gerne Verzweiflung dargestellt wird – in Kontrast zu seiner sonstigen Körperhaltung und Ausstrahlung – ich betone: ich habe keine Ahnung - er ist jetzt aufgestanden und mit seinem geraden Gang – der Oberkörper ganz steif und gerade, nur die Beine bewegen sich ohne Resonanz weiter oben – in ein Geschäft – ich beuge mich vor um besser hinzusehen: nein, es ist ein Lokal, etwa eine Bar.

Ein zweiter älterer Mann in den besten Jahren mit mächtigem Brustkorb, der in einen auch ordentlichen Bauch übergeht, und mit weißen Haaren ist aufgetaucht, schaut suchend herum als wäre er verabredet und verschwindet dann wieder; ich habe nicht mitbekommen wann und wohin (zum Schreiben muß ich meinen Blick aufs Notizbuch senken – der innere, besorgte Erklärer). Die Spiegel in manchen Fensternischen erlauben es gelegentlich, die Passant*innen von vorne und von hinten vorbeigehen zu sehen.

Viele Menschen, die vorbeikommen, sind auf so durchschnittliche Weise, aber angenehm schön und gehen in einem so freien Gang, wie freie Bürger eben, die sich ihrer Existenz nicht schämen. Heute nehme ich es ihnen wirklich ab. In den Abgrund, der sich da für mich auftut, stürze ich jetzt nicht! Das lasse ich nicht zu. Auf meinem T-Shirt steht: „Ich suche gerade mein Auto“ (αὐτός – selbst). So! Jetzt ist mir der Schreibdrive ausgegangen. Das habe ich davon!


(3.6.2024)


©Peter Alois Rumpf Juni 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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