Mittwoch, 17. Januar 2024

3523 Näher an die Wand gerückt

 



9:29 a.m. Ein wenig näher an die Wand gerückt hocke ich im Bett und wundere mich, dass ein paar Zentimeter Sitzplatzverschiebung so viel ausmachen und ein anderes Lebensgefühl hervorrufen können. Draußen hat es überraschend geschneit; es liegt eine dünne, zerschlissen unfertige Schneedecke vor allem auf den Dächern, wie ich aus den Fenstern in Atelier und Musikzimmer gesehen habe. Jetzt stiere ich verschlafen und starr in die Leere vorm Bücherregal bis sich die nur ausgebremst wahrgenommenen Dinge verändern und der Eindruck einer anderen Wirklichkeit entsteht. Ein leichter, deutlicher Druck hat sich an meiner Nasenwurzel gebildet. Ich habe nicht zu allem eine Meinung und vor allem wechselt sie ständig, darum kann ich kein offizieller Schriftsteller sein – fällt mir gerade so ein. Nun blicke ich zu dem kleinen, vollgeladenem Bord links an der Wand zwischen Zimmertür und Fenster, das ich spöttisch meinen Hausaltar nenne und die Wand dahinter nicht weniger spöttisch meine Ikonostase. Und das Glitzern des leeren Weihbrunns, der drei kaum benutzten Räuchergefäße, der angelehnten Walkingstecken und besonders der leeren Alubehälter der ausgebrannten Teelichter suggerieren dort eine besondere Anwesenheit oder rufen sie gar herbei. Über meinen von abgelegtem Zeugs überbordenden Kleidersessel unterm Hausaltar mit der langen und der kurzen Unterhose oben drauf muß ich schmunzeln. Ich genieße diese Koexistenzen und treibe sie gern weiter: Ich stehe jetzt kurz auf und fülle den verstaubten Weihbrunn mit schon von Algen bereichertem Weihwasser, das oben im Regal schon viele, viele Jahre in einer Glasflasche zwischen Christine Lavants Gedichten und Kerenyis Mythologie der Griechen steht. Schaun wir mal, was das bewirkt, noch dazu, wo beim Öffnen der Flasche ein Stück vom bereits korrodierten Gummiverschluß in den Weihwasserbehälter gefallen ist. Ich rücke noch einen Zentimeter nach rechts, zumindest habe ich es redlich versucht. Ich rücke nochmals und diesmal bin ich ganz sicher, dass sich mein Hintern nach rechts bewegt hat. Mein Blick von hier ist optimistischer, fröhlicher, aus besser gesicherter Position heraus. Mein Blick geht unwillkürlich schräg nach links zur Altarwand und nicht wie in der üblichen Position geradewegs zum Bücherregal und zum Kastl am Bettende mit der arroganten Frau vom Katz. Meinen Kopf leicht nach links geneigt genieße ich die neue, frische Perspektive. Staubsaugen könnte ich auch wieder einmal, aber dieses Thema kratzt mich nur am Rande. Ich atme tief und mit innerem Schmunzeln, von dem ich vermute, dass man es auch auf meinen Lippen sehen kann, ein. Ich dreh meinen Kopf absichtlich nach rechts an die näher gerückte Wand und betrachte mit hingedrehten Augen die Zeichnungen meiner Töchter und die Kunstkarten dort von Kokoschka über Kubin zu Thöny und anderen, deren Namen ich vergessen habe. Etwas weniger anstrengend nach rechts gedreht sehe ich aus spitzem Winkel Karten von – verdammt! Mein Gehirn! Ich habe die Namen der Künstlerinnen und Künstler nicht vergessen, sie fallen mir nur nicht ein! - Marie-Luise von Motesiczky – verdammt! Jeden Namen muß ich mir unter großen Anstrengungen erkämpfen! - Weiler, Munch, Mosbacher und der vom Hellerskandal, der mir nicht einfallen will (ah! Basquiat! Gegoogelt). Andere Künstler habe ich wirklich vergessen und weiß nicht mehr, von wem das Bild auf der Kunstkarte ist und wie sie heißen. Und jetzt auch mit nach rechts geneigtem Kopf aber geradeaus geblickt auf die lustigen Weiber, halb- bis Vierfünftel nackt und vermutlich gar nicht immer so lustig, am Kastl direkt vor mir am Bettende. Es sind auch andere Kunstkarten mit anderen Sujets an die Wand getackert, aber jene Nackten dominieren; nicht einmal die arrogante Katz’sche Junge Frau kann denen beikommen, im Gegenteil: fast scheint sie heimlich verstohlen zu lächeln. Oder doch nicht: wenn ich länger hinblicke, verliert sich dieser Eindruck. Ich statte noch den zwei neuvalistischen Visionären einen optischen Besuch ab, obwohl sie schon außerhalb des Lichtkegels der Leselampe recht hoch hängen. Drehe ich die Lampe hinauf, hält sie nicht in dieser Position und rutscht mitsamt ihrem Lichtstrahl wieder herab. Die zwei Visionäre sind die, die in meine Richtung zu gaffen scheinen, aber ihr Blick ist so intensiv, dass ich annehme, sie sehen mich nicht (schließlich bin ich ja keine Vision, oder?). Und weil – so denke ich mir das zurecht – weil ich keine Vision bin, bekomme ich jetzt Hunger und will hinunter in die Küche frühstücken gehen, mitten durchs lebhafte Tageskindergeschehen.

Etwas habe ich noch vergessen: wenn ich in dieser neuen Position im Bett liege oder hocke, befindet sich der säulenartige CD-Ständer exakt in der Verlängerung meiner – wie sage ich? - Leibesmitte.


(17.1.2024)


©Peter Alois Rumpf Jänner 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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