Freitag, 10. November 2023

3461 Gestammel über Miles Davis

 



2:39 a.m. Ich habe mir gerade einen Miles Davis angehört: „Bitches Brew“ (die habe ich noch nicht lange). Es ist unglaublich, wie schön diese Musik ist; mein Favorit: „Feio“ (Wayne Shorter). Und es ist unglaublich, dass damals Davis mit seinen Musikern Konzertsäle und Festivals füllen konnte. Das kommt mir für heute unmöglich vor. Diese Musik verträgt kein Berieseln; es lohnt sich, sich darauf konzentriert einzulassen, mit aktivem Zuhören. Vor knapp fünfzig Jahren war es „Big Fun“, die ich wieder und wieder angehört habe; die habe ich regelrecht rauf und runter studiert (mittels Anhören, nicht mit Analyse), und diese Stimmung damals kann ich fast immer abrufen: die verdämmernden Nachmittage in der kleinen Studentenbude und mein andächtiges Zuhören. Wie da immer wieder musikalische Spannung aufgebaut wird, die sich dann wieder entlädt. „Herzzerreißend“ möchte ich fast herschreiben, wenn dieser Begriff nicht im Kitsch gefangen wäre; man möge ihn etwas wörtlicher nehmen. Diese Musik (Big Fun, Bitches Brew) ist absolut auf der Höhe der Zeit. Sie spiegelt unsere Leben in der modernen Zeit (vor der Postmoderne, die ich im Verdacht habe, nicht viel anderes zu sein als der Ringstraßenbaustil, also verlogen. Freilich muß man auch da schauen, wie man auch in solcher Zeit zurecht und weiterkommt und einiges wird schon gelingen können). Wie wir unbehauste Menschen jeden Schritt selbst erfinden müssen und den Zusammenhang. Oh! - wie viel Feingefühl und Aufmerksamkeit das braucht. Immer wieder passieren „Fehler“, mit denen man weitergehen muß und die man annehmen muß im kreativen Sinn. Immer wieder stößt man an Kontras, Widerstände und Einbrüche und muß damit klarkommen und weiterspielen, ohne von einem Orientierungsgebäude (sprich gesellschaftlich verbindlichem Sinnhorizont) geschützt und geleitet zu sein. So ein fragiles Gewebe, keine Flucht ins – angeblich – Selbstverständliche, fast alles muß neu gefunden werden. Und beglückend, wie es gelingt. Das Auskosten des einzigartigen Moments. Es gibt kein äußeres Gesetz. Alles muß von Innen kommen und empfunden und gefunden werden. Ja, ja, es ist ja noch der Bass, der alles zusammenhält (fast wie bei Bach; aber gut, davon versteh ich wirklich überhaupt nichts!) und der das Geschehen sanft, entschieden und kraftvoll weitertreibt, aber ohne jede Angeberei, ohne autoritär zu sein. Ich würde fast sagen: diese Musik ist auf areligiöse Weise religiös. Ja gut, dass ist völlig mißverständlich und kann alles Mögliche und Unmögliche heißen. Ich meine: diese Musik schafft es, den Zusammenhang herzustellen (der nicht selbstverständlich vorgegeben ist wie in früheren Zeiten) und über sich hinauszuweisen. Und zwar durch Schau nach innen, die Musiker (und auch der Hörer) muß nach innen horchen. Die Musiker müssen nach so einem Konzert völlig erschöpft gewesen sein von dieser seelischen, geistigen und körperlichen Anstrengung. Dass für die Schallplatten das Material oft bearbeitet und neu zusammengestellt wurde, ändert nichts daran; die das machten, mußten wie die Musiker beim Liveauftritt arbeiten, ungeschützt und mit demselben Feingefühl und derselben Konzentration.


(10.11.2023)


Peter Alois Rumpf November 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite