Dienstag, 12. September 2023

3389 Albertinische Geistreise

 



Albertina. Im Gewölbe im Erdgeschoß. Akustisch bin vom Rundherum abgeschottet. Mein Blick wandert von der Graphik an der Wand zu den herumgehenden BesucherInnen. Ich wollte es nicht schon wieder herschreiben, aber ich habe den John Frusciante in den Ohren. So sitze ich verkrümmt auf der Bank und kann meinen Rücken nicht strecken. Ich versuche es wieder und wieder. Die Arbeiten hier in diesem Teil reißen mich nicht vom Stockerl und auch nicht von der Bank, wenn ich auch immer wieder umhergehe. Ein Bild gibt es, das ich länger anschauen will (ich sitze wieder); hier löst sich die kunstsakrale Steifheit zu einem sakralgraphischen Feuerwerk auf (kommt mir vor). Und noch eines, das ich länger anschaue (Frau und Mann 2011).

Das ist ja toll! In der geliebten Batliner-Sammlung hängen drei meiner Lieblingsbilder gleich beieinander: Vuillards blaues Zimmer, Manguins Rückenakt unter Bäumen und Gauguins Bretonin. Ich fange jetzt nicht an, meine Lieblingsbilder zum hundertsten Mal aufzuzählen, ich raste einfach vor den zwei Werefkins, mit Blick auf den Jawlensky rechts und lasse die Seele baumeln. Eine junge Frau, auch in schönen Formen, verstellt mir kurz den Blick. Das kommt schon mal vor. Das verkrümmte Sitzen ohne Rückenlehne läßt meinen Vorsatz, diese Bilder stundenlang anzugaffen, langsam zusammenstürzen. Auch ein Mann im himbeerrosa Hemd kann die Lichtwellen vom Bild zu mir unterbrechen (wie nimmt mich eigentlich das Bild wahr? Schließlich dürften ja auch von mir Lichtwellen ausgehen und auf das Bild auftreffen). In diesem Augenblick ist es, als würde ich zum ersten Mal in den Eingangsbereich des Werefkinschen Cafés sehen. Meinem neugierigen, suchenden, zugreifenden Blick ist es – irgendwie – gelungen, in das Bild zu gehen. Und das Tier im linken Bild, das durch die Winternacht streunt, hat einen so schönen Schatten. Und die Bäume sind so etwas von umfroren. Sorry! Die jungen Frauen, die durch meinen Blick gehen, knapp an mir vorbei, haben ihre Brüste genau in meiner Augenhöhe (es geht mir selbst auf die Nerven, dass ich solches immer wieder herschreibe, aber es ist so, es ist die Wahrheit, also muß ich es notieren. Ich konnte nicht rechtzeitig meinen Blick umstellen und er wird davon kurz affiziert (Ja, ja passt schon! Wie sagen meine Referenzzauberer? „das Affentheater der Alltagswelt“)). Ich gehe besser weiter! Vor Jawlenzkys Buntem Berg bleibe ich noch etwas stehen.

Am Weg statte ich auch der Frau Boeckl einen kurzen Besuch ab und verweile vor dem Bild ein paar Sekunden. Und nun der Höhepunkt, an dem ich mich wieder hinsetze: Kokoschkas Städte, meine Lieblingsbilder. Ich sitze vor Dresden, luge aber schon immer zu London hinüber. Mich beschäftigen immer die dunklen Wolken über Dresden. Diese heimliche Düsternis, die sich über die bunte Stadt und die großartige Weite der Landschaft und auf die stille Schönheit der Elbe legt und sie subtil und hellsichtig angreift.

Nun sitze ich vor London und blicke noch zu Dresden hinüber, um mir wirkliche Klarheit zu verschaffen. Dann erlaube ich meinem suchenden Blick endlich, sich im himmlischen Londoner Licht zu verlieren. Die innere Spannung bringt mich dazu, wieder weiter zu gehen. Mir fällt auf, dass ich seit einigen Tagen unwillkürlich meine inneren Rechtfertigungsmonologe in meinem desaströs schlechten, rudimentären und unerträglich falschen Englisch zu halten versuche. Und immer wieder bin ich verblüfft, wenn ich ganz nah an diese Bilder Kokoschkas herangehe: „nur“ so anscheinend locker hingeworfene Farbflecken. Meisterhaft, wie Kokoschka das Bild im Abstand sich vollenden läßt.

Vorm stehenden Kardinal setze ich mich hin und höre John Frusciantes „All We Have“. Dieses Stück ist so schön, dass mir der blöde Kardinal völlig wurscht ist. Ich wechsle über zu Captain Beefhearts „Peon“. Da sich hier im Gang ein großer Spiegel an der Wand befindet, bin nicht nur ich es, der sich darin anschaut, sondern viele, gar viele der Vorbeigehenden. Manchmal schiele ich zu den Klees daneben (während mich der Schiele-Raum später überhaupt nicht interessiert). Jetzt spielen John Frusciante und Flea „Peon“.

Im Spiegel sehe ich: meine Beine schauen gar nicht so schlecht aus: kraftvolle Knie, sehnige, aber nicht dürre Unterschenkel und schlanke, elegante Fesseln. Nur mein etwas schief und verkrümmt hängender Oberkörper (um nicht Rumpf zu schreiben) wäre verbesserungswürdig. Mein Kreuz zieht es zum Aufbruch. Noch einmal Captain Beefheart (One Rose I Mean). Gut, flanieren wir an den Klees vorbei.

Am längsten bleibe ich vor Klees Villenviertel (Zwischen Winter und Frühling). So ein schönes Bild! So ein schönes Bild.

Nachdem ich mich heute hart durch die Ausstellung arbeite, erlaube ich mir, mich vor Motesickys Arbeiter hinzusetzen, wie auch der Arbeiter sitzt, und zu rasten und mich an seiner Freundlichkeit und seinen guten Augen zu erfreuen. Jetzt spielt John Frusciante so massiv auf, dass der Arbeiter und sein Bildnis plötzlich und optisch weiter weg rücken. Ich schaue mich um und sehe sonst nichts, das ich anschauen will. Nein! Halt! Doch: ein Beckmann. Ich blicke zurück zum Arbeiter und zoome das Bild näher und merke, dass unter dem Sessel die Schatten ihr eigenes Spiel treiben – ich würde sagen: nicht bedrohlich, aber ich habe von Schatten und ihr Eigenleben nicht viel Ahnung.

Ein paar Schritte (mein Kreuz!) und ich raste ein wenig vor Chagalls Papierdrachen, das ich recht mag. Ich schaue den Leuten beim Photographieren zu und überlege mir – des ins Blaugrau hineingepinselten weiß konturierten Riesenfisches am Boden des Ziegenkobels wegen – ob denn der Chagall das nicht von meinen Bildern abgeschaut hat! (hihihihi!)

(12.9.2023)

Peter Alois Rumpf September 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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