Donnerstag, 26. Mai 2022

2712 Im Bus nach Sievering

 

Kürzlich fahre ich am Wochenende mit meiner Frau im 39A nach Sievering. Richtiger gesagt: meine Frau mit mir. Wir plaudern ein wenig; ich schaue auch gern zum Fenster hinaus, und dann fragt mich meine liebe Angetraute, was ich denn gerade lese. Dazu ist anzumerken, dass wir wochentags nicht so viel Gelegenheit zu Gesprächen haben: sie steht um 5h zum Yoga auf, bereitet dann das Essen und die Räume für die Tageskinder vor, die kommen um 8h, dann arbeitet sie hochkonzentriert den ganzen Tag als Tagesmutter, nach dem Abholen die Räume wieder umbauen (Geschirr und Wäsche mach meistens ich), hat dann an manchen Tagen Elternabend für die Eltern der Kinder, oder Spielraum für die nächste Generation an Tageskindern, die so schon ein wenig eingewöhnt werden, Elternabende für die Eltern der nächsten Tageskinder, oder auch Fortbildungen und Piklertreffen, oder sie unterrichtet Yoga; ich bleibe zurückgezogen in meinem Zimmer, verliere mich in Internet, in Schlafen, Träumen, Lesen, Musikhören, Computerspielen … und gehe erst zwischen 3 und 4 a.m. schlafen. Zurück in den Autobus: bevor ich antworten kann, fällt ihr ein, dass ich den Mann ohne Eigenschaften lese und sie fragt mich, ob ich das Buch ihr empfehle. Ich ringe um eine Antwort und äußere vorsichtig die Vermutung, dass diese eingeschobenen Essays und Reflexionen für sie nicht so interessant sein könnten, zeige mich aber für mich vom Roman durchaus begeistert. Da bittet sie mich, vom Roman zu erzählen. Nun ist es so: erstens bin ich überhaupt ein schlampiger Leser, weil ich alles unzerkaut hinunterschlinge, mir keine Namen und Figuren merken kann, eigentlich beim Lesen nur in Seele und Gedanken ein wenig aufgewühlt werden möchte. Freilich: Musils Beschreibungen faszinieren mich, wenn ich auch seine zeitgenössischen Ehr- und Sittengesetze kaum aushalte – wenn ich auch als auch noch in den Fünfzigerjahren am Land Teilsozialisierter – der andere Teil ist Sechzigerjahre und Popmusik – einen Hauch dieser alten Zeit eingeatmet habe (auf unsere Schule gab es noch Professoren mit Umgangsformen, Gesichtern und Bärten aus dem 19. Jahrhundert), oder gerade deshalb. Trotzdem verstehe ich nicht alles, seine essayistischen Einschübe sind mir meistens zu hoch und die Begrifflichkeit zu fremd, aber dennoch gibt es gerade darin Passagen, die mich hellauf begeistern und wo ich denke: der Mann hat tief in die Zeit und die menschliche Natur gesehen, fast schon ein Sehender! Kurz und gut: was kann ich zu Musil sagen? Ich fange halt irgendwie an zu reden, wiederhole, dass ich vermute, dass ihr das Buch nicht so liegt, und auf die Frage nach der Story versuche ich mich kurz zu fassen und die Figuren und ihre Verbindungen aus dem Gedächtnis zu kramen, verhedder mich schnell in den Erzählfäden, springe im Versuch, knapp zu erzählen, verwirrend hin und her und stelle fest, dass ich schon viel wieder vergessen habe. Gleichzeitig – wir befinden uns ja in einem öffentlichen Bus – schau ich mich unauffällig um, ob da jemand herumsitzt, der nach Musilexperte ausschaut. Jetzt weiß ich nicht wirklich, wie Musilexperten ausschauen können und ob es ein  gemeinsames optisches Merkmal oder wenigstens eines im Gehaben geben könnte, aber irgendwie intellektuell sollte die Person ausschauen, oder? Die Frage ist damit nur verschoben, aber anscheinend will der Geist unbedingt so eine Erkennbarkeit annehmen.  Diese Frau da vor mir? Ich überlege, prüfe, erwäge, dann steigt sie aus. Ein Mann nimmt ihren Platz ein. Tja, seine Frisur! Ein alter Mann, schaut schon intellektuell aus! Sein gleichgültiger Gesichtsausdruck – nicht zu vergessen: wir sitzen im Bus und ich erzähle hörbar die ganze Zeit zögernd und stotternd – sein Gesichtsausdruck also könnte ja auch heißen, dass er Musilexperte ist und es nicht nicht anmerken lassen will – aus fremdschämerischen Gründen und um den armen unbedarften Narren da – das bin ich – aus Mitleid zu schonen. Ich rede die ganze Zeit und gleichzeitig überlege ich, wie ich's denn am besten anlegen könnte und in meinem Vortrag nicht allzu peinlich weiterfahren. Ich entscheide mich für meine übliche Überlebensstrategie, die ich bestens kann: ich stelle mich noch blöder als ich bin, rede forciert – aber nicht zu sehr und nicht zu auffällig – dialektal, sodass der Musilexperte denken muß: das ist zwar ein ungebildeter Trottel, aber da und dort hat er's doch ganz gut getroffen. Dass mit dieser meiner inneren Parallelaktion mein Erzählfluss nun erst recht immer wieder entglitten ist und – multitasking können nur Frauen – ich noch öfter den Faden verloren habe und mich unrettbar verheddert habe, liegt auf der Hand. Ich mußte dann meinen Vortrag ganz abbrechen und bekennen, dass ich dazu nichts zu sagen habe. Ja, so war das mit dem Musilexperten im Bus nach Sievering.

(Kritische Anmerkung meiner geliebten Frau: "Frauen können auch kein Multitasking - es bleibt ihnen nur nichts anderes über! Und sie haben enormen Stress dabei.")


(26.5.2022)

©Peter Alois Rumpf  Mai 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

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