2418 Die Leite
Ich sitze auf einer Bank in einer Hangwiese mit alten
Obstbäumen, rechtsseitig bin ich von Gebüsch geschützt, und es ist so schön,
dass es weh tut. Die Sonne kommt von rechts herein und beleuchtet mir die Wiese
in Streifen mit ihrem tagesalten Licht, der Wind bläst daher, ebenfalls von
rechts, und läßt die Blätter, Äste und Zweige mit den späten Sonnenlichtern
spielen. Mich erinnert es – obwohl eine andere Landschaft – an die Wiese mit
den Obstbäumen und die Leite hinterm Haus, in dem die Großeltern wohnten. Das
war ein Anwesen, obwohl das Haus nicht meinen Großeltern gehörte. Das Haus
meiner Eltern hat viel zu wenig Landschaft um sich um ein Anwesen zu sein. Es
liegt nicht in der Wiese und ist so über ein Siedlungshaus mit Garten nicht
hinausgekommen (in mancher Hinsicht kann der soziale Aufstieg ein Abstieg
sein). Die Krähen schreien schon; ich werde bald weiter zu den Steinhofgründen
hinauf gehen. Das Gras steht hoch, das Kindergeschrei vom Spielplatz unten
hinter den Bäumen kommt nur gedämpft her, und so ist es still. Der Wind in den
Büschen raschelt und erschafft hinter mir und am Hang gegenüber echtes
Waldesrauschen. Was für eine Schönheit!
Es nimmt ein wenig den Atem, wenn die tief stehende Sonne im
Wald ins Unterholz leuchtet, denn sie zeigt den Wald, wie man ihn sonst kaum
sieht – Erleuchtung und Aufklärung bevor es finster wird – das löst kleine und
heilsame Schocks aus. Und auf den Wiesen greift das tiefe Licht in den
Dschungel aus Blättern und Halmen hinein, wirft lange Schatten, bei denen mir
immer vorkommt, sie hätten so viel zu erzählen: vom Leben und Sterben, von der
Schönheit auf und jenseits der Welt und der unermesslichen Freude, auf dieser
Welt zu sein. Auch die Schatten der Kieselsteine am Schotterweg zeigen eine
solche Tiefe, dass einem schwindlig werden kann und es kaum auszuhalten ist.
Ich sitze oben an der Kuppe der Steinhofgründe und blicke
nach Südwesten in die untergehende Sonne – noch zwei Zentimeter über dem
Horizont – und in die Landschaft im hügeligen Wienerwald, dem man hier und
jetzt fast abnehmen könnte lieblich zu sein; dabei kann er so rauh und kalt
sein, wie ich weiß. Die fernen Hügel und Berge veredeln sich im Blau der Luft
und vermutlich im allmählich aufkommenden Dunst. Und immer dieser unruhige
Wind: mal sanft, mal fährt er stark und rücksichtslos in das hochstehende Gras,
mal hält er gänzlich inne. Unmittelbar vor mir glitzert jeder sonnengestreifte
Grashalm, jedes sonnengestreifte Blatt, jedes sonnengestreifte Stück Holz. Die
lagernden Menschen können – wenn sie es wollen – im hohen Gras verschwinden.
Auch die unbeschriebene Seite meines Notizbuches ist sonnentrunken und die
schattigen Stellen, die Schatten meiner schreibenden Hand und des schreibenden
Pilotstiftes sind – vor allem an ihren Rändern – blaustichig und das Ganze
tief. (In innerem Schweigen könnte ich mich durch diese blaue Tiefe in andere
Welten stürzen.)
Noch ein Zentimeter über dem Horizont. Die Rispen der Gräser
bewegen sich aufgeregt und der Wind versucht jetzt sogar von links mein
Notizbuch aufzublättern. Viele Flugzeuge überfliegen uns; zu viele für meinen
Geschmack, aber darum geht es nicht.
Es sind die letzten Sonnenstrahlen, die vorm Untergang auf
den Baumkronen liegen und die Bäume und Büsche kompakt, stumpf (eingehüllt von
Licht) und doch transparent machen. Das ist die Stunde, da ich mich schmerzhaft
von den Erwartungen und Hoffnungen des Tages verabschieden muß und die
spärlichen Erwartungen und Hoffnungen der Nacht zaghaft aufkommen. Ja, jetzt
läuten die Glocken zum Ave Maria und genau jetzt geht die Sonne unter.
Und jetzt: der Horizont glüht noch rot und gelb, während es
schon Nacht wird. Rechts in dieser glühenden Horizontschale steht der
zunehmende Mond in Form einer ganz schmalen Sichel, und links die Venus, der
Abendstern.
(8.9.2021)
©Peter
Alois Rumpf September 2021 peteraloisrumpf@gmail.com
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