Donnerstag, 9. September 2021

2418 Die Leite

 

Ich sitze auf einer Bank in einer Hangwiese mit alten Obstbäumen, rechtsseitig bin ich von Gebüsch geschützt, und es ist so schön, dass es weh tut. Die Sonne kommt von rechts herein und beleuchtet mir die Wiese in Streifen mit ihrem tagesalten Licht, der Wind bläst daher, ebenfalls von rechts, und läßt die Blätter, Äste und Zweige mit den späten Sonnenlichtern spielen. Mich erinnert es – obwohl eine andere Landschaft – an die Wiese mit den Obstbäumen und die Leite hinterm Haus, in dem die Großeltern wohnten. Das war ein Anwesen, obwohl das Haus nicht meinen Großeltern gehörte. Das Haus meiner Eltern hat viel zu wenig Landschaft um sich um ein Anwesen zu sein. Es liegt nicht in der Wiese und ist so über ein Siedlungshaus mit Garten nicht hinausgekommen (in mancher Hinsicht kann der soziale Aufstieg ein Abstieg sein). Die Krähen schreien schon; ich werde bald weiter zu den Steinhofgründen hinauf gehen. Das Gras steht hoch, das Kindergeschrei vom Spielplatz unten hinter den Bäumen kommt nur gedämpft her, und so ist es still. Der Wind in den Büschen raschelt und erschafft hinter mir und am Hang gegenüber echtes Waldesrauschen. Was für eine Schönheit!

Es nimmt ein wenig den Atem, wenn die tief stehende Sonne im Wald ins Unterholz leuchtet, denn sie zeigt den Wald, wie man ihn sonst kaum sieht – Erleuchtung und Aufklärung bevor es finster wird – das löst kleine und heilsame Schocks aus. Und auf den Wiesen greift das tiefe Licht in den Dschungel aus Blättern und Halmen hinein, wirft lange Schatten, bei denen mir immer vorkommt, sie hätten so viel zu erzählen: vom Leben und Sterben, von der Schönheit auf und jenseits der Welt und der unermesslichen Freude, auf dieser Welt zu sein. Auch die Schatten der Kieselsteine am Schotterweg zeigen eine solche Tiefe, dass einem schwindlig werden kann und es kaum auszuhalten ist.

Ich sitze oben an der Kuppe der Steinhofgründe und blicke nach Südwesten in die untergehende Sonne – noch zwei Zentimeter über dem Horizont – und in die Landschaft im hügeligen Wienerwald, dem man hier und jetzt fast abnehmen könnte lieblich zu sein; dabei kann er so rauh und kalt sein, wie ich weiß. Die fernen Hügel und Berge veredeln sich im Blau der Luft und vermutlich im allmählich aufkommenden Dunst. Und immer dieser unruhige Wind: mal sanft, mal fährt er stark und rücksichtslos in das hochstehende Gras, mal hält er gänzlich inne. Unmittelbar vor mir glitzert jeder sonnengestreifte Grashalm, jedes sonnengestreifte Blatt, jedes sonnengestreifte Stück Holz. Die lagernden Menschen können – wenn sie es wollen – im hohen Gras verschwinden. Auch die unbeschriebene Seite meines Notizbuches ist sonnentrunken und die schattigen Stellen, die Schatten meiner schreibenden Hand und des schreibenden Pilotstiftes sind – vor allem an ihren Rändern – blaustichig und das Ganze tief. (In innerem Schweigen könnte ich mich durch diese blaue Tiefe in andere Welten stürzen.)

Noch ein Zentimeter über dem Horizont. Die Rispen der Gräser bewegen sich aufgeregt und der Wind versucht jetzt sogar von links mein Notizbuch aufzublättern. Viele Flugzeuge überfliegen uns; zu viele für meinen Geschmack, aber darum geht es nicht.

Es sind die letzten Sonnenstrahlen, die vorm Untergang auf den Baumkronen liegen und die Bäume und Büsche kompakt, stumpf (eingehüllt von Licht) und doch transparent machen. Das ist die Stunde, da ich mich schmerzhaft von den Erwartungen und Hoffnungen des Tages verabschieden muß und die spärlichen Erwartungen und Hoffnungen der Nacht zaghaft aufkommen. Ja, jetzt läuten die Glocken zum Ave Maria und genau jetzt geht die Sonne unter.

Und jetzt: der Horizont glüht noch rot und gelb, während es schon Nacht wird. Rechts in dieser glühenden Horizontschale steht der zunehmende Mond in Form einer ganz schmalen Sichel, und links die Venus, der Abendstern.

 

(8.9.2021)

 

 ©Peter Alois Rumpf   September 2021   peteraloisrumpf@gmail.com

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