2414 Wieder auf der Bellevue
Am Abend bin ich gegen die Sonne den Berg hinan gestiegen
und jetzt sitze ich auf der Bellvue-Wiese, unser untergehendes Zentralgestirn
im Rücken, von unten kommt das Ave-Läuten herauf und die Stadt hat einen
rosa-blauen Farbstich (die Gebäude rosa, deren Schatten blau). Das letzte
Sonnenlicht auf den Baumwipfeln schimmert vor deren Grün gelblich, der Freud
und sein Gedenkstein verschwinden fast im Schatten. Ins Auge sticht unten,
relativ nahe, der weinrote Kran. Glockengeläut aus allen Richtungen (außer
Westen). Der melancholische und schwierige Übergang vom Tag in die Nacht hat
begonnen. Ich schwitze nicht nur im Angesicht. Das Geläute, das immer noch anhält,
wird immer wieder, aber schwächlich von Tatü-Tatas gestört; insgesamt jedoch
ist die Transzendenz stärker zu dieser Stunde als die Normalität. Das ist ja
auch die Stunde, in der das Fieber gerne ansteigt und die Junkies und an der
Seele Verletzten leicht Panik bekommen. Kein Wunder, dass man hier das
Abendgebet angesetzt hat.
Es sind einige Leute hier – es gibt viele, die diesen Ort
lieben – und ihre Gespräche, von denen ich nur einzelne Worte deutlich hören
kann, sind ein beruhigendes Hintergrundrauschen. Noch immer läuten die Glocken,
als hätten die Kirchen ihre Reihenfolge abgesprochen. Irgendein Hochhaus –
sagen wir am Donaukanal – fängt mit seiner Glasfassade das letzte direkte
Sonnenlicht ein und wirft es bis zu uns her. Selbst der Kran leuchtet wie in
gefakter Himbeerlimonade getaucht. Die Berge rechts hinten im Dunst wirken
veredelt und in Trance entrückt. Viele junge Leute kommen nun an. Das Kraftwerk
in der Lobau zeigt mir den Stinkefinger aus dem Grünen heraus. Ich suche den
Stephansdom und finde ihn gleich im Häusermeer. Nur mehr die höchsten Türme und
Hochhäuser trifft ein schwächelnder Abglanz der Sonne; dafür ist der Himmel
hinter mir von blassem Rot. Auf Erden werden die Farben stumpf und die Stadt
unten grau. Der Himmel ist noch viel zu hell für die Sterne. Zwischen meinen
Beinen wächst Schafgabe. Die ersten Lichter im Prater. Und dann ganz im Süden,
noch südlich der Spinnerin am Kreuz. Die Gräser beginnen kaum merklich zu
schwanken. Die Laubbäume beim Freud drüben werden kompakter, fester, runder und
wesenhafter. Der Donauturm steht genau zwischen zwei Baumgruppen, sonst könnte
ich ihn nicht sehen. Das Firmenschild am roten Kran leuchtet ebenfalls
elektrisch. Es ist einfach unglaublich, was sich da unten vor einem an
Schönheit und Intensität ausbreitet: auch eine Offenbarung über die Welt!
Ganz vereinzelt leuchten schon kleinere Lichter aus der
Stadt herauf; ganz vereinzelt. Allmählich werden der Lichter mehr. Lautes
Gelächter von rechts hinten, unsympathisch, weil überdreht und angespannt. Der
Kahlenbergsender blinkt noch sehr verstohlen sein rotes Licht in den grauen
Himmel. Eine Uhr schlägt, ein Hund bellt. Eine einzige, kleine, zartblaue
Wegwarte entdecke ich gerade noch, bevor es zu dunkel wird.
Jetzt sieht man schon am AKH-Klotz die Fenster leuchten. Und
überhaupt sind unten wieder der Lichter mehr geworden. Trotzdem ist ein toter
Punkt erreicht: Niemandsland im Grenzübergang vom Tag zur Nacht. Ein
elegisches, existentialistisches Flugzeug. Die Bäume: so mächtig, so stumm. Die
Glitzerei unten nimmt immer mehr zu und wird stärker. Das Maximum ist noch
nicht, aber bald erreicht. Das Firmament ist noch sternenlos verblieben; die
Schöpfung ist noch unvollendet, der Schöpfer hängt durch.
Im Osten der erste Stern. Wer ist es? Kann es schon die
Capella sein? Die kann noch nicht heraußen sein, oder? Oder die Wega? Die
müßte schon viel höher stehn. Oder ein Planet? Jupiter? Ja, von der Helligkeit
her tippe ich auf Jupiter.
Reifen auf Asphalt. Die Stadt entfaltet ihr Lichterkleid;
die Bäume stehen so still, unbewegt, rühren sich nicht und sind so unglaublich
präsent in der Dunkelheit. Es riecht so gut nach Sommerwiese und die Luft ist
voller Schlieren und dunkleren Flecken und Gewimmel von Korpuskeln, wie ich
behaupte. Der westliche Himmelsrand glüht noch, wo er den Horizont trifft.
Fledermäuse flattern lautlos. Fast ist der Übergang geschafft – aber es ist
noch nicht ganz Nacht. Vereinzelte Sterne tauchen aus dem Grau auf.
Ich schätze jetzt so dreißig Leute hier. Es wird kühl.
Einige gehen, aber einige kommen. Adler, Schwan, Wega? Noch nicht deutlich
genug. Bald ist es zu finster zum Schreiben, aber der Freudstein drüben
leuchtet voll herüber im Stäbchensehsystem. Ja, sicher: Schwan, Adler und Wega
in der Lyra sind nun bestätigt; der Himmel ist finster genug und ich kann auch
die schwächeren Sterne ausmachen.
Die Leute, die hier lagern, kommen mir nun vor wie Pilger,
die gelassen, fröhlich und ohne Krampf auf den Geist warten, während sie essen,
trinken, rauchen, plaudern und scherzen und von ihrem Leben erzählen. Flugzeuge
starten in Schwechat und steigen als Lichtpunkte in den Himmel.
(6.9.2021)
©Peter
Alois Rumpf September 2021 peteraloisrumpf@gmail.com
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