Dienstag, 7. September 2021

2414 Wieder auf der Bellevue

 

Am Abend bin ich gegen die Sonne den Berg hinan gestiegen und jetzt sitze ich auf der Bellvue-Wiese, unser untergehendes Zentralgestirn im Rücken, von unten kommt das Ave-Läuten herauf und die Stadt hat einen rosa-blauen Farbstich (die Gebäude rosa, deren Schatten blau). Das letzte Sonnenlicht auf den Baumwipfeln schimmert vor deren Grün gelblich, der Freud und sein Gedenkstein verschwinden fast im Schatten. Ins Auge sticht unten, relativ nahe, der weinrote Kran. Glockengeläut aus allen Richtungen (außer Westen). Der melancholische und schwierige Übergang vom Tag in die Nacht hat begonnen. Ich schwitze nicht nur im Angesicht. Das Geläute, das immer noch anhält, wird immer wieder, aber schwächlich von Tatü-Tatas gestört; insgesamt jedoch ist die Transzendenz stärker zu dieser Stunde als die Normalität. Das ist ja auch die Stunde, in der das Fieber gerne ansteigt und die Junkies und an der Seele Verletzten leicht Panik bekommen. Kein Wunder, dass man hier das Abendgebet angesetzt hat.

Es sind einige Leute hier – es gibt viele, die diesen Ort lieben – und ihre Gespräche, von denen ich nur einzelne Worte deutlich hören kann, sind ein beruhigendes Hintergrundrauschen. Noch immer läuten die Glocken, als hätten die Kirchen ihre Reihenfolge abgesprochen. Irgendein Hochhaus – sagen wir am Donaukanal – fängt mit seiner Glasfassade das letzte direkte Sonnenlicht ein und wirft es bis zu uns her. Selbst der Kran leuchtet wie in gefakter Himbeerlimonade getaucht. Die Berge rechts hinten im Dunst wirken veredelt und in Trance entrückt. Viele junge Leute kommen nun an. Das Kraftwerk in der Lobau zeigt mir den Stinkefinger aus dem Grünen heraus. Ich suche den Stephansdom und finde ihn gleich im Häusermeer. Nur mehr die höchsten Türme und Hochhäuser trifft ein schwächelnder Abglanz der Sonne; dafür ist der Himmel hinter mir von blassem Rot. Auf Erden werden die Farben stumpf und die Stadt unten grau. Der Himmel ist noch viel zu hell für die Sterne. Zwischen meinen Beinen wächst Schafgabe. Die ersten Lichter im Prater. Und dann ganz im Süden, noch südlich der Spinnerin am Kreuz. Die Gräser beginnen kaum merklich zu schwanken. Die Laubbäume beim Freud drüben werden kompakter, fester, runder und wesenhafter. Der Donauturm steht genau zwischen zwei Baumgruppen, sonst könnte ich ihn nicht sehen. Das Firmenschild am roten Kran leuchtet ebenfalls elektrisch. Es ist einfach unglaublich, was sich da unten vor einem an Schönheit und Intensität ausbreitet: auch eine Offenbarung über die Welt!

Ganz vereinzelt leuchten schon kleinere Lichter aus der Stadt herauf; ganz vereinzelt. Allmählich werden der Lichter mehr. Lautes Gelächter von rechts hinten, unsympathisch, weil überdreht und angespannt. Der Kahlenbergsender blinkt noch sehr verstohlen sein rotes Licht in den grauen Himmel. Eine Uhr schlägt, ein Hund bellt. Eine einzige, kleine, zartblaue Wegwarte entdecke ich gerade noch, bevor es zu dunkel wird.

Jetzt sieht man schon am AKH-Klotz die Fenster leuchten. Und überhaupt sind unten wieder der Lichter mehr geworden. Trotzdem ist ein toter Punkt erreicht: Niemandsland im Grenzübergang vom Tag zur Nacht. Ein elegisches, existentialistisches Flugzeug. Die Bäume: so mächtig, so stumm. Die Glitzerei unten nimmt immer mehr zu und wird stärker. Das Maximum ist noch nicht, aber bald erreicht. Das Firmament ist noch sternenlos verblieben; die Schöpfung ist noch unvollendet, der Schöpfer hängt durch.

Im Osten der erste Stern. Wer ist es? Kann es schon die Capella sein? Die kann noch nicht heraußen sein, oder? Oder die Wega? Die müßte schon viel höher stehn. Oder ein Planet? Jupiter? Ja, von der Helligkeit her tippe ich auf Jupiter.

Reifen auf Asphalt. Die Stadt entfaltet ihr Lichterkleid; die Bäume stehen so still, unbewegt, rühren sich nicht und sind so unglaublich präsent in der Dunkelheit. Es riecht so gut nach Sommerwiese und die Luft ist voller Schlieren und dunkleren Flecken und Gewimmel von Korpuskeln, wie ich behaupte. Der westliche Himmelsrand glüht noch, wo er den Horizont trifft. Fledermäuse flattern lautlos. Fast ist der Übergang geschafft – aber es ist noch nicht ganz Nacht. Vereinzelte Sterne tauchen aus dem Grau auf.

Ich schätze jetzt so dreißig Leute hier. Es wird kühl. Einige gehen, aber einige kommen. Adler, Schwan, Wega? Noch nicht deutlich genug. Bald ist es zu finster zum Schreiben, aber der Freudstein drüben leuchtet voll herüber im Stäbchensehsystem. Ja, sicher: Schwan, Adler und Wega in der Lyra sind nun bestätigt; der Himmel ist finster genug und ich kann auch die schwächeren Sterne ausmachen.

Die Leute, die hier lagern, kommen mir nun vor wie Pilger, die gelassen, fröhlich und ohne Krampf auf den Geist warten, während sie essen, trinken, rauchen, plaudern und scherzen und von ihrem Leben erzählen. Flugzeuge starten in Schwechat und steigen als Lichtpunkte in den Himmel.

 

(6.9.2021)

 

 ©Peter Alois Rumpf   September 2021   peteraloisrumpf@gmail.com

 

 

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