1934 Jedermann
Gestern, am ersten August – der Jedermann hat sein
hundertstes Jahr – stehe ich in der
Abenddämmerung an der Thaya, schaue gedankenverloren – eben nicht, dass keine da
wären, aber sie fallen gleich wieder ins Vergessen und halten mich nicht – an einer
Stelle, wo das Ufer nicht von Bäumen und Gebüsch bewachsen und so der Blick
aufs Gewässer frei ist, in das goldbraun trübe Wasser, das hier, ein paar Meter vor
einem kleinen Wehr, einen kleinen, stillen, ruhigen See bildet, im Schatten der
hohen linksseitigen Uferhänge – felsig und dicht bewaldet – ein wenig
unheimlich, in dem das Wasser in der aufkommenden Dunkelheit kaum bemerkbar
fließt.
Da sehe ich einen Holzstecken langsam dahertreiben, sein
oberer Teil über dem Wasser, herausgestreckt wie der Kopf eines unerfahrenen
Schwimmers, Nase und Augen sind an dem knaufähnlichen Teil angedeutet, der „Hals“
ist wieder unter Wasser, „Brust“ und „Bauch“ recken sich mit durchgestrecktem
Rücken aus dem Wasser, das Ganze
wie ein giacomettriger Leichnam, starr,
ohne sich selbst zu rühren, wie von der Thaya feierlich und majestätisch in
einer Fronleichnamsprozession weitergetragen, die Blumen, Büsche und Bäume am
Ufer stehen Spalier, die Insekten inszenieren und streuen in der tragenden und begleitenden Wassermasse
liebliche, kleine Wellenkreise, dieser unheimliche Stock, mir läuft ein
Schauder über den Körper in die Füße, wo er etwas länger verbleibt.
Zuerst denke ich an einen „Verbündeten“ – einen Kundschafter
fremder energetischer Lebewesen – dann aber, dass es mein Tod ist, der sich
diesen Stecken als Gestalt geliehen hat, um mir etwas mitzuteilen? Was genau, weiß ich nicht, aber
dass ich sterblich bin wäre die naheliegendste Botschaft.
Fasziniert und gebannt starre ich auf diesen magischen Leichenzug, der bald hinter hohem Schilf und – wie passend!
– violetten Uferpflanzen verschwindet. Ich eile ein paar Meter weiter
flußabwärts, setze mich dort in einen herumstehenden Stuhl und warte hier, bis „der
Tod“ an dieser Stelle, wo ich wieder freien Blick aufs Wasser habe,
vorbeitreibt. Die blau gekleideten Libellen jagen am Rande der Prozession
aufgeregt hin und her.
Als er wieder hinter dem nächsten Buschwerk verschwindet,
steh ich auf, gehe näher ans Ufer und
lasse diesen abtreibenden Stecken nicht mehr aus den Augen, der langsam auf das
Wehr immer noch in dieser überdeutlichen Feierlichkeit zu schwimmt. Dort aber
treibt das Ding nach rechts nicht direkt auf das Wehr zu, sondern auf eine
Betonmauer mit einem rostigen Eisen“tor“ – vermutlich eine Schleuße, um Wasser in einen Nebenkanal zu lenken – und
dort bleibt „mein Tod“ hängen, einfach wieder ein profaner Holzstecken. Amen.
(2.8.2020)
©Peter
Alois Rumpf August 2020 peteraloisrumpf@gmail.com
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