Sonntag, 2. August 2020

1934 Jedermann


Gestern, am ersten August – der Jedermann hat sein hundertstes Jahr – stehe ich in der Abenddämmerung an der Thaya, schaue gedankenverloren – eben nicht, dass keine da wären, aber sie fallen gleich wieder ins Vergessen und halten mich nicht – an einer Stelle, wo das Ufer nicht von Bäumen und Gebüsch bewachsen und so der Blick aufs Gewässer frei ist, in das goldbraun trübe Wasser, das hier, ein paar Meter vor einem kleinen Wehr, einen kleinen, stillen, ruhigen See bildet, im Schatten der hohen linksseitigen Uferhänge – felsig und dicht bewaldet – ein wenig unheimlich, in dem das Wasser in der aufkommenden Dunkelheit kaum bemerkbar fließt.

Da sehe ich einen Holzstecken langsam dahertreiben, sein oberer Teil über dem Wasser, herausgestreckt wie der Kopf eines unerfahrenen Schwimmers, Nase und Augen sind an dem knaufähnlichen Teil angedeutet, der „Hals“ ist wieder unter Wasser, „Brust“ und „Bauch“ recken sich mit durchgestrecktem Rücken aus dem Wasser, das  Ganze wie  ein giacomettriger Leichnam, starr, ohne sich selbst zu rühren, wie von der Thaya feierlich und majestätisch in einer Fronleichnamsprozession weitergetragen, die Blumen, Büsche und Bäume am Ufer stehen Spalier, die Insekten inszenieren und streuen in der tragenden und begleitenden Wassermasse liebliche, kleine Wellenkreise, dieser unheimliche Stock, mir läuft ein Schauder über den Körper in die Füße, wo er etwas länger verbleibt.

Zuerst denke ich an einen „Verbündeten“ – einen Kundschafter fremder energetischer Lebewesen – dann aber, dass es mein Tod ist, der sich diesen Stecken als Gestalt geliehen hat, um mir etwas mitzuteilen? Was genau, weiß ich nicht, aber dass ich sterblich bin wäre die naheliegendste Botschaft.

Fasziniert und gebannt starre ich auf diesen magischen Leichenzug, der bald hinter hohem Schilf und – wie passend! – violetten Uferpflanzen verschwindet. Ich eile ein paar Meter weiter flußabwärts, setze mich dort in einen herumstehenden Stuhl und warte hier, bis „der Tod“ an dieser Stelle, wo ich wieder freien Blick aufs Wasser habe, vorbeitreibt. Die blau gekleideten Libellen jagen am Rande der Prozession aufgeregt hin und her.

Als er wieder hinter dem nächsten Buschwerk verschwindet, steh  ich auf, gehe näher ans Ufer und lasse diesen abtreibenden Stecken nicht mehr aus den Augen, der langsam auf das Wehr immer noch in dieser überdeutlichen Feierlichkeit zu schwimmt. Dort aber treibt das Ding nach rechts nicht direkt auf das Wehr zu, sondern auf eine Betonmauer mit einem rostigen Eisen“tor“ – vermutlich eine Schleuße, um Wasser in einen Nebenkanal zu lenken – und dort bleibt „mein Tod“ hängen, einfach wieder ein profaner Holzstecken.    Amen.








(2.8.2020)







©Peter Alois Rumpf   August 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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